Whatsalp? Bondo ist erst der Anfang
Wie es den Alpen geht, interessiert Dominik Siegrist seit Jahren. Deshalb wandert der Zürcher derzeit wieder quer durch Europa: 1800 Kilometer weit, für die Wissenschaft.

Der Entschluss fällt am Strand von Nizza. Die Stimmung in der Gruppe der sieben Männer ist ausgelassen an jenem Abend im September 1992. Einer sagt: «Das machen wir wieder.» Den Alpenbogen durchwandern, von Wien bis nach Nizza. Und dabei die Veränderungen der Landschaft dokumentieren sowie nach den Spuren von Menschen und Naturereignissen suchen. Ein anderer sagt: «In 25 Jahren.»
Dominik Siegrist hat die Szene am Strand und den Satz all die Jahre nicht vergessen. Zu gut war das Erlebnis auf der TransALPedes während den vier Monaten gewesen, gross das Medieninteresse. Der damals 35-jährige Geograf aus Zürich spürte, dass er nicht nur ein Zeichen gegen den «Mobilitätswahn» in den Alpen und deren «Verwundung» hatte setzen, sondern mit seinem Team tatsächlich etwas hatte bewirken können. So sagte etwa 1994 das Schweizer Stimmvolk Ja zur Alpeninitiative und gab damit seinem Willen Ausdruck, den Alpenraum vor dem Transitverkehr zu schützen. Siegrist hatte zu seiner Lebensaufgabe gefunden: Alpenaktivist sein.

Jetzt, mit 60 Jahren, ist Siegrist wieder auf der Strecke unterwegs. Er ist mittlerweile Professor sowie Institutsleiter an der Hochschule Rapperswil und war jahrelang Präsident der internationalen Naturschutzorganisation Cipra. Sie und die Alpeninitiative unterstützen das Projekt. Am 3. Juni ist er in Wien gestartet. 1600 Kilometer hat er schon hinter, 200 noch vor sich. Im Kernteam sind zwei erste Mitstreiter dabei, dazu gesellen sich immer wieder Mitwanderer. In Vals zum Beispiel Sänger Ritschi, der einen Song zur Tour geschrieben hat.
Video: Ritschi trägt in Vals seinen Song TransALPedes vor.
Die Geschichte über die Berglizwergli funktioniert auch bei Wind. (Video: Whatsalp)
Diesmal heisst die Tour Whatsalp, ein bewusstes Wortspiel mit dem Namen des Chatprogramms. Doch Siegrist will nicht aus der Ferne, digital erfahren, wie es um die Alpen steht, sondern dies vor Ort erleben. Und mit den Leuten ins Gespräch kommen, von Angesicht zu Angesicht. Mit Gemeindepräsidenten, Naturparkvorstehenden und Alpenbewohnern. Denn nur so erfahren Siegrist und sein Team vor Ort, wie die Frau aus einem Bergdorf im Wallis den Hang hinauf zeigt und sagt, vor einigen Jahren seien oberhalb der Alpweide noch keine Bäume gewachsen und die Wiesen noch nicht vergandet gewesen.
Wir erreichen Dominik Siegrist telefonisch in Stroppo, einem Dorf im Valle Maira im italienischen Piemont. Die Gegend gilt seit Jahren als eine von der Abwanderung und Landflucht am stärksten betroffenen Regionen im ganzen Alpenraum.

Route von Whatsalp. Zum Vergrössern anklicken. (Karte: TA/Whatsalp)
Wie geht es Ihren Füssen? Blasen?
Gut, Blasen wären höchstens in den ersten zwei Wochen ein Thema gewesen, denn dann haben sich die Füsse ans Wandern gewöhnt. Aber ich hatte keine Blasen.
Und wie geht es den Alpen?
Sie leiden noch immer unter den Einflüssen der Grossstädte, bezogen auf die Schweiz vor allem unter Zürich. Deshalb kann ich nicht genug betonen, dass wir Zürcher die Verantwortung für die Berggebiete tragen. Aber es gibt auch positive Entwicklungen, wie zum Beispiel hier im Valle Maira.
Was ist da passiert?
Hier spürt man, dass in den 25 Jahren viel gegangen ist. 1992 war das Tal noch gebeutelt von der Abwanderung ins industrielle Zentrum Turin. Die Zahl der Einwohner von Stroppo war seit 1900 von 1200 Einwohner auf unter 100 gesunken. Doch es keimten erste Initiativen auf, mit einer Vermarktung des sanften Tourismus dem entgegenzuwirken. So konnten Arbeitsplätze geschaffen und die Abwanderung gebremst werden.

Der Tourismus ist eines jener Felder, bei dem das Team seit 1992 grosse Veränderungen feststellt. Erfreuliche Projekt wie jene im Valle Maira gibt es laut Siegrist im Alpenraum viele. Durch den globalen Strukturwandel und die billigen Flüge in ferne Destinationen seien die Berggebiete unter Druck. Einen positiven Beitrag leisteten auch die zahlreichen Naturpärke. Skeptisch ist Siegrist gegenüber den grossen Investitionen in Skigebiete, in Beschneiungsanlagen, neue Lifte. «Die sind nicht nachhaltig», sagt er. Auch beim Verkehr konstatiert Siegrist Gutes: Der Transitverkehr auf der Strasse hat in Schweiz dank der Alpeninitiative stark abgenommen. «Da sind wir anderen Ländern weit voraus.» Das Ziel von jährlich 600'000 Fahrten ist mit rund einer Million aber noch nicht erreicht.
Es ist der Freizeitverkehr, der Ihnen Sorgen macht.
Er ist ein Graus. In den letzten 20 Jahren hat er sich verdoppelt. Persönlich störe ich mich vor allem an den Motorrädern. Ich hatte beim Wandern das Gefühl, ich würde ständig von ihrem Lärm beschallt.
Fühlten Sie sich auf der Wanderung irgendwann einmal richtig in Gefahr?
Wirklich gefährlich war nur ein Steinschlag im Puschlav. Die Zahl der Murgänge in den Alpen war überhaupt eindrücklich.

Sie passierten Bondo kurz vor dem Bergsturz. Gab es für Sie Hinweise, die auf das Ereignis hindeuteten?
Wir haben auch da schon Spuren von einzelnen Abgängen gesehen. Die Folgen von Naturkatastrophen, die der Klimawandel auslöst, sind überall in den Bergen sichtbar und werden noch zunehmen. In diesem Sinne ist Bondo erst der Anfang. Aber, es gab auch früher schon Bergstürze. Auf unserer ersten Tour war jener in Morignone noch präsent. 1987 war jenes Dorf im Veltlin gänzlich verschüttet worden.
Verändert hat sich wohl auch die Art des Reisens seit der ersten Alpendurchquerung.
Völlig. Auf der ersten Tour waren unsere Rucksäcke noch schwer. Zur Dokumentation hatten wir Kamera, Papier und Stifte dabei. In jedem Dorf standen wir vor der Telefonkabine Schlange, um Medienanfragen zu beantworten. Oder wir faxten Texte. Eine andere Zeit.
Eine andere Zeit konstatiert Dominik Siegrist auch auf der Mobilisierungsebene. Vor 25 Jahren spürte er, der in den 80er-Jahren in Theo Pinkus' Ferienzentrum Salecina in Maloja erstmals mit alpenpolitischen Themen in Berührung gekommen war, viel mehr Elan. Es war die Zeit des Aufbruchs, der Bürgerinitiativen und des ersten UNO-Umweltgipfels in Rio. Damals war es möglich, ganze Stauseen zu verhindern, wie jenen im Val Madris. Heute ist davon nicht mehr viel zu spüren. Vielerorts macht Siegrist die Abwanderung der Jungen dafür verantwortlich. Sie finden nach spezialisierten Ausbildungen in den Städten in ihrer Heimat keine Stellen mehr. Zudem seien viele Jungen nicht mehr bereit, wie ihre Vorfahren an den steilen Hängen Landwirtschaft zu betreiben. Ganze Talabschnitte verwildern. Aber aus seiner Sicht birgt auch diese neue Wildnis ein Potenzial, die Städter in die Bergregionen zu locken.

Stadtrat Filippo Leutenegger wollte Sie eigentlich auf der Wanderung ein Stück begleiten, tat es aber nicht. Fürchtete er sich vor der Wildnis?
Wohl kaum. Ich weiss nicht, wie ernst seine Absicht war. Doch dann brach er sich den Mittelhandknochen, der ihn zur Absage zwang.
Wie viele Paar Schuhe haben Sie eigentlich durchgewandert?
Zwei Paar.
Am 29. September wird Siegrist mit seinem Team am Strand von Nizza ankommen – und wieder feiern. Auch ein Reisebericht im Rotpunktverlag ist geplant, wie vor 25 Jahren schon. Ob die Tradition 2042 weitergeführt wird? Die mitgewanderten jungen Whatsalpinisten haben es Siegrist versprochen.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch