«Wichtig sind Menschen, nicht Mauern»
Über die bewegte Geschichte der Hellmutstrasse im Zürcher Kreis 4 hat Aktivist Hannes Lindenmeyer ein neues Buch geschrieben.

Erst zum Schluss des Gespräches kommt bei Hannes Lindenmeyer Rührung auf. «Ja, das Blaue Haus – daran denke ich schon mit Wehmut zurück.»
Dieses Haus an der Hellmutstrasse habe man damals, Mitte der 70er-Jahre, von einer rüstigen Altstoffhändlerin mieten können, für «1000 Stutz im Monat». Unter dem Dach habe man gewohnt, dazu gab es die Hexenwerkstatt der Künstlerin Doris Stauffer, einen «Chlütteriladen» für Plattenspieler sowie das erste Lokal der Werkstatt für Improvisierte Musik (WIM).
Im Haus feierte man Feste, ein grosser Freundeskreis ging ein und aus, darunter spätere Promis wie Irène Schweizer und Pierre Favre. Lindenmeyer seufzt: «Vielleicht habe ich im Blauen Haus die schönste Zeit meines Lebens verbracht.»
Hannes Lindenmeyer (73), Geograf, Lokalhistoriker und Aktivist, hat soeben im Rotpunktverlag eine Monografie veröffentlicht. Sie heisst «Hellmut – Die lange Geschichte einer kurzen Strasse» und schildert auf 240 Seiten das Auf und Ab der Hellmutstrasse bei der Bäckeranlage im Kreis 4. Die Strasse misst 80 Meter – doch die «Hellmi», so der Kosename der Ministrasse, steht stellvertretend für den Wandel, der im urbanen Zürich allgegenwärtig ist; vom Kreis 5 bis ins Seefeld und von Oerlikon bis zur Sihlcity.
Früher war nicht alles besser
Besonders die Fotografien entfalten eine starke Wirkung. Man sieht Häuser, die längst abgerissen wurden; man bestaunt Personen, die vor vielen Jahren gelebt haben und jetzt wie von einem anderen Stern erscheinen. Und man findet jene eine Fotografie, die bei Lindenmeyer heute noch Gänsehaut hervorruft: Ein Bagger macht im Herbst 1986 das Blaue Haus dem Erdboden gleich, auf der Parzelle wird später ein rentabler Neubau hochgezogen. Sofort steigen Zweifel in uns empor. Ist Fortschritt wirklich erstrebenswert? Oder war früher vielleicht doch alles besser?

Früher sei nicht alles besser gewesen, sagt Lindenmeyer, den Mief der 60er-Jahre zum Beispiel wünsche sich wohl niemand zurück. Die Beizen hatten eine halbe Stunde vor Mitternacht Polizeistunde und mussten aufstuhlen, in den Parks gab es Schilder mit der Aufschrift: «Rasen betreten verboten». Noch in den 70er-Jahren habe man sich als Eheleute ausgeben müssen, wollte man eine Wohnung mieten – Konkubinatspaare und WGs blitzten bei den meisten Hausbesitzern ab.
Auch an der Hellmi sei nicht alles rosa gewesen, das Restaurant Schönau etwa habe von frühmorgens bis nach Mitternacht die Schluckspechte angezogen. Entsprechend laut sei es dort zu- und hergegangen, die kurze Ausschankpause hätten die Stammgäste jeweils mit grossem Palaver im Pavillon der Bäckeranlage überbrückt.

Doch all das sei im Vergleich zur aktuellen Situation an der Ausgehmeile Langstrasse harmlos gewesen. Dass viele angestammte Beizen schliessen und neue, austauschbare Clubs an ihre Stelle treten, sei das eine. Gravierender sei die Anonymität des Partyvolks, sagt Lindenmeyer, der in der Siedlung «Hellmi Neu» wohnt und oft über Abfallberge steigen muss, wenn er frühmorgens das Haus verlässt. «Die Leute kommen von weit her in die Langstrasse und sind sich nicht bewusst, dass hier auch Menschen wohnen; es fehlt der Respekt.»
Also ist Nostalgie angebracht? Lindenmeyer relativiert: In einem sich wandelnden Quartier wie dem Kreis 4 seien es «nicht die Mauern, die zählen, sondern die Menschen». Gebäude würden abgerissen und durch neue ersetzt, das sei zwar oft schade, aber letztlich unvermeidlich. Prekär werde es dann, wenn die angestammte Bevölkerung sich die Neubauten nicht mehr leisten könne und verdrängt werde. Oder wenn sie aufgrund der Entwicklung zur Partymeile «freiwillig» wegzieht. «Ein Quartier muss man immer gemeinsam mit der bestehenden Bevölkerung entwickeln», findet Lindenmeyer.
Der Hund macht vorwärts
Und tischt ein aktuelles Beispiel auf, das ihn beschäftigt: An der Nietengasse befindet sich ein urbanes Biotop mit Restaurant, Coiffeur, günstigen Wohnungen und einem der letzten italienischen Fahrradhandwerker, dem Veloladen «meobici». Dieser sei seit 50 Jahren hier und müsse nun wie alle Mieter mit der Kündigung rechnen, weil die Häuserzeile verkauft werden soll.
Prompt weckt das Vorhaben bei Lindenmeyer jene Kräfte, die ihn schon durch die 68er- und 80er-Revolten getragen haben. «Ich habe bereits mit Behörden gesprochen und bin in Kontakt mit den Betroffenen.» Dann muss er los, denn er recherchiert für sein nächstes Buch: Es ist dem Blumenladen seiner Partnerin gewidmet, der einst im Quartier war und Blumen erstmals einem alternativen Publikum näherbrachte. «Sehr spannend», meint er, dann zieht ihn Hündchen Igor aus dem Lokal.
Hannes Lindenmeyer: Hellmut. Die lange Geschichte einer kurzen Strasse. Rotpunktverlag, Zürich 2018. 256 Seiten, mit 150 Fotos und Zeitdokumenten, ca. 42 Franken.
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