Wie die Pest besiegt wurde
Dreimal schon rollte die Pest über die Welt hinweg. Die Letzte kostete Millionen Menschenleben – nur nicht in Europa.

Hätte der indische Matrose im September 1896 mit seinem Fieber und seinen dick geschwollenen Lymphknoten die anderen Männer in seiner Kajüte angesteckt, über einen Floh oder eine Schiffsratte, vielleicht wäre er zu einer historischen Figur geworden: Patient null einer tödlichen Seuche, der erste Fall eines dramatischen Pestausbruchs auf europäischem Boden.
Doch es kam anders. Die englischen Ärzte brachten ihn ins Spital und untersuchten Schiffsbesatzung und Passagiere. Der Matrose blieb der einzige Pestkranke auf dem Dampfschiff aus Kalkutta, das im Londoner Hafen lag – und steht damit symbolisch für die Eindämmung eines Krankheitserregers, der Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Auch, weil die Medizin Jahrhunderte gebraucht hat, um zu verstehen, wie die Erreger den Körper heimsuchen.
Der Schwarze Tod kam in Wellen
Die Pest trägt die Angst schon im Namen: Lateinisch pestis lässt sich wahlweise übersetzen mit Unheil, Verderben oder Untergang. Als die erste grosse Pandemie den europäischen Kontinent Mitte des 6. Jahrhunderts erreichte, starb im Römischen Reich innerhalb von zweihundert Jahren jeder Vierte an der Justinianischen Pest, benannt nach dem damaligen Kaiser. Und die zweite Pestwelle ging als eine der verheerendsten Pandemien in die Geschichte des Kontinents ein: Jeder dritte Europäer erlag zwischen 1346 und 1353 dem Schwarzen Tod. Schwarz wie die dunkel gefärbten Pestbeulen der Opfer.
Während der dritten und letzten grossen Pandemie schliesslich starben, von den ersten Fällen im späten 19. Jahrhundert bis zum Verebben der Pestwelle in der Mitte des 20. Jahrhunderts, auf der ganzen Welt 15 Millionen Menschen. Der rasant zunehmende Handel und die Dampfschiffe wirkten auf die Ausbreitung der Seuche wie ein Katalysator. Erkrankte Besatzungsmitglieder, Reisende und im Getreide versteckte Ratten und Flöhe brachten die Krankheit in diesem halben Jahrhundert immer wieder auch in Europas Hafenstädte.
In Europa brach die Pest im 19. und 20. Jahrhundert überraschenderweise nicht mehr richtig aus: Weniger als tausend Menschen starben.
Doch es hatte sich etwas verändert, in Europa brach die Pest im 19. und 20. Jahrhundert überraschenderweise nicht mehr richtig aus: Weniger als tausend Menschen starben. Schlussendlich, mit dem Ende des letzten Ausbruchs im Herbst 1945, wurde die Pest auf dem Kontinent ausgerottet. «Dabei weist nichts darauf hin, dass der Erreger zwischen den letzten beiden Pestwellen weniger ansteckend oder weniger tödlich geworden ist», sagt Maria Spyrou, Paläogenetikerin am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte. Im 19. und 20. Jahrhundert war die Krankheit noch genauso gefährlich wie im Mittelalter.
Von Asien nach Europa
Hatten die Europäer also einfach Glück, dass die dritte Welle der Pest so glimpflich verlief? Oder war das ein Triumph der modernen Medizin? Lange war wenig bekannt, wie Ärzte im 20. Jahrhundert versuchten, einen Ausbruch der Pest in europäischen Hafenstädten zu verhindern. Es gibt keine kollektive Erinnerung an die Pandemie. Lediglich viele einzelne Quellen sind überliefert: Zeitungsberichte, Niederschriften von Ärzten, Erzählungen und Berichte von Bewohnern. Die Anthropologin Barbara Bramanti und ihre Forschergruppe haben diese Schnipsel der Medizingeschichte jetzt gesammelt und zu einem grossen Bild zusammengefügt. Ihre Arbeit, vor kurzem im Journal «Proceedings of the Royal Society» veröffentlicht, eröffnet einen neuen Blick auf den Kampf der Europäer gegen die Pest.
Die Dokumente zeigen: Schon einige Jahre bevor der indische Matrose 1896 im Londoner Hafen an der Pest starb, nahm der letzte grosse Ausbruch der Seuche in Asien seinen Anfang. Im Südwesten Chinas steckten sich Menschen bei pestkranken Murmeltieren an, wie der Historiker Myron Echenberg in seinem Buch «Plague Ports» rekonstruiert. Zu Beginn des Jahres 1894 besuchten Bewohner Hongkongs ihre Familien in China für das traditionelle Neujahrsfest – und brachten die Pest bei ihrer Rückkehr mit in die Kolonie. Vom Hafen der Stadt wurden Seide, Porzellan und Tee in die Welt verschifft, ideale Bedingungen für die Erreger, um sich auszubreiten. Über die Dampfschiffe gelangte die Krankheit nach Südamerika, nach Australien und nach Indien. Und von dort aus nach London.
Bislang hatten sich Ärzte eine Seuche wie die Pest mithilfe der jahrtausendealten galenischen Medizin erklärt: Ein Mensch werde krank, so die Vorstellung, wenn vier Körpersäfte – Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle – ins Ungleichgewicht geraten. Diesmal aber schien sich an dieser Vorstellung etwas zu ändern. Etwa zeitgleich zum Ausbruch entdeckte der französische Arzt Alexandre Yersin in Hongkong den Pesterreger. Das Bakterium wurde nach ihm benannt: Yersinia pestis. In Europa setzte sich ein neuer Gedanke durch: Um den «bedrohlichen Aufstieg der asiatischen Pest» zu verhindern, so schrieb der österreichisch-ungarische Arzt Count Francis Lützow damals, würden die Regierungen zusammenarbeiten müssen.
Moderne Seuchenbekämpfung
Im Februar 1897, wenige Monate nach dem Tod des Matrosen im Londoner Hafen, trafen sich Delegierte aus zwanzig Staaten, die meisten berühmte Hygieneärzte und Bakteriologen. Die Konferenz war eine der ersten, bei denen eine gemeinschaftliche Strategie gegen eine Seuche herauskam: Alle wichtigen Staaten – Grossbritannien, Frankreich, die USA und vierzehn weitere – unterzeichneten die Konvention zur Eindämmung der Pest. Die Konferenz war damit ein wichtiger Meilenstein der gerade entstehenden internationalen Anstrengung gegen die Ausbreitung von Infektionskrankheiten. In Venedig gelang ein entscheidender Umbruch in der Geschichte der Medizin – weg von spirituellen Vorstellungen hin zu Strategien der Seuchenbekämpfung, wie man sie auch heute noch kennt.
In Venedig zweifelten fast alle Ärzte an Miasmen als Ursache der Pest. Ein neues Krankheitsmodell setzte sich durch, die Infektionstheorie: Nicht Körpersäfte oder Düfte, sondern ein lebendiges Bakterium oder ein Virus verursachen eine Krankheit. Und diese Theorie war gerade dabei, die Medizin fundamental zu verändern. Ärzte und Chemiker wie Robert Koch und Louis Pasteur suchten im Labor nach Erregern der Tuberkulose, des Milzbrands und der Diphtherie. Ideen wie die der Desinfektion, der Isolation von Kranken und einfache Hygienestandards wie Abwassersysteme und Trinkwasserkontrollen in grösseren Städten setzten sich durch.
Entlang viel bereister Routen richteten die Europäer Desinfektionsstationen zur Abtötung der Pesterreger ein, Kleidung wurde in Öfen verbrannt.
Dies führte dazu, dass an den Grenzen der Ausbruchsregionen – Indien, Pakistan, Russland – nun Waren und Reisende kontrolliert werden sollten, notfalls durften die Staaten ihre Grenzen sogar schliessen. Entlang viel bereister Routen, zum Beispiel am Persischen Golf, richteten die Europäer Desinfektionsstationen zur Abtötung der Pesterreger ein, Kleidung wurde in Öfen verbrannt. Brach die Pest dennoch in einer Stadt aus, musste die Regierung das fortan offiziell melden. Auf Dampfschiffen untersuchte ein Schiffsarzt die Besatzungsmitglieder wöchentlich.
Letzte Tote 1945
Die Ärzte, die in den Hafenstädten gegen eine Ausbreitung der Seuche kämpften, hatten Erfolg. In vielen Städten, vor allem in griechischen Häfen am Mittelmeer entlang viel befahrener Routen und in englischen Hafenorten, brach die Seuche bis in die 1940er-Jahre immer wieder aus. Mancherorts dokumentierten Ärzte jedes Jahr neue Fälle, doch mehr als ein Dutzend waren es selten. Das letzte Mal starben Menschen in Europa an der Pest im Jahr 1945, am Ende des Zweiten Weltkriegs, in Tarent.
Nach den Dokumentationen der Anthropologin Bramanti erkrankten vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Herbst 1945 in Europa 1692 Menschen an der Pest, 457 von ihnen starben. Die Hygieneärzte und Bakteriologen von damals bewerteten das als eindeutigen Erfolg der Medizin. «Die Pest kann heute keine Katastrophen wie im 14. Jahrhundert mehr anrichten», resümierte der französische Arzt Adrien Proust. In seinen Augen verantwortlich dafür: die moderne Hygiene, umgesetzt in der Konvention von Venedig. Die Genetikerin Maria Spyrou gibt dem recht, wenn auch zurückhaltend: «Nach heutigem Forschungsstand waren die Massnahmen dieser Konferenz entscheidend.»
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