Amerikanische Waffen in AfghanistanWie die USA ihre eigenen Feinde bewaffnet haben
Den Taliban sind nicht nur Hunderttausende Gewehre und Millionen Schuss Munition in die Hände gefallen, sondern auch moderne Jeeps und sogar Helikopter und Flugzeuge.

Die Taliban verstehen sich nicht nur aufs Kämpfen, sie verstehen sich auch auf die Show und auf die Bilder. Der US-Fernsehsender CNN zeigte jüngst ein Video von Taliban-Kämpfern, die mit US-Gewehren und schusssicheren Westen paradieren. Die Kämpfer sind, mit dem für militante Islamisten typischen Jihadisten-Pathos, ganz in Weiss gekleidet: Weiss ist die Farbe des Leichentuchs.
Neben dem makabren Totentanz zukünftiger «Märtyrer» zeigte der Sender Bilder, auf denen die afghanischen Islamisten kistenweise fabrikneue Sturmgewehre, Maschinenpistolen und andere Handfeuerwaffen auf Lastwagen laden. Den Taliban ist offenbar fast das gesamte Arsenal der früheren Regierungsarmee und der Polizei in die Hände gefallen. Um welche Mengen es geht, ist zwar im Bericht des «US-Special Inspectors für den Aufbau Afghanistans» vom Juni 2021 aufgelistet. Aber um welche Stückzahlen es sich genau handelt, weiss in Washington derzeit keiner. Laut CNN sagte eine Quelle im US-Verteidigungsministerium: «Es gibt keine genaue Buchführung darüber, was alles dortgeblieben ist.»
Die Waffen von 300’000 Mann
Das Kriegsgerät einer Armee von etwa 180’000 Mann steht zur Verfügung der Taliban und ihrer Jihadisten- und Al-Qaida-Verbündeten. Dazu kommen die Waffen von 120’000 Polizisten, besonders gut bewaffnet waren die afghanischen Special Forces, die gern mit Totenkopf-Strumpfmasken kämpften. Es ist ein Desaster für die USA und ihre Afghanistan-Verbündeten: Sie haben ihre Feinde bewaffnet.
Grundsätzlich hatte Washington bei der Aufrüstung der Kabuler Regierung ein vernünftiges Konzept. Die Afghanen sollten eine zahlenmässig relativ starke Streitkraft bekommen, die beweglich ist und auf einen Werkzeugkasten einfacher Waffen zurückgreifen kann. Keine Hightech-Armee, aber doch moderne Sturmgewehre und MGs, etwas Artillerie, geländegängige Humvee-Jeeps, minensichere MRAPs-Truppentransporter. Keine echte Luftwaffe, sondern nur zwei Dutzend A-29 Tucano-Jets: Das Turbo-Prop-Flugzeug war geeignet, die Taliban anzugreifen, wenn sie Stützpunkte der Armee attackieren sollten. Dazu Helikopter und Transportflugzeuge. Dem «Wall Street Journal» zufolge waren es bis 2016 mehr als 200 Maschinen.

Das Gerät sollte robust sein, leicht zu warten. Genau das kommt nun aber den Taliban zugute. War in Afghanistan früher die Kalaschnikow die Waffe der Wahl, haben viele der Kämpfer längst US-Sturmgewehre. Auf den Videos und Selfies halten die Kämpfer stolz M-4-Karabiner, M-16-Gewehre und amerikanische Scharfschützengewehre in den Händen. Sie hatten solche US-Waffen bereits während der jahrelangen Kämpfe erbeutet. Aber jetzt sind ihnen die Bestände aus den Armee-Lagerhäusern in die Hände gefallen: ein Arsenal, über 20 Jahre angehäuft.
Allein in zwei Jahren kamen 18 Millionen Schuss nach Afghanistan.
«Wir wollen definitiv nicht, dass diese Waffen in den Händen derer landen, die sie gegen unsere Interessen oder die des afghanischen Volks einsetzen», sagte ein Sprecher des Pentagon vergangene Woche. Genau das aber werden die Taliban tun. Und die Zahlen sind bisher sehr unvollständig. Dem «Wall Street Journal» und CNN zufolge wurden allein zwischen 2003 und 2016 an Kabul 600’000 Sturmgewehre und andere Handfeuerwaffen geliefert. Dazu MGs, Pistolen, Minen, Mörsergranaten, kleinere Raketen, Panzerfäuste, Nachtsichtgeräte, Funkausrüstung, Helme, Schusswesten, Uniformen.
Zwischen 2013 und 2017 sollen zudem 76’000 Fahrzeuge ins Land gekommen sein, so der Sender unter Berufung auf US-Behörden. In den nächsten zwei Jahren seien noch einmal fast 4700 Humvee-Geländewagen dazugekommen, 7000 MGs, Granaten. In den Depots müssen demnach auch Unmengen an Munition lagern: Allein in zwei Jahren kamen 18 Millionen Schuss nach Afghanistan.
Auch Teile der Luftwaffe erbeutet
Das Ganze erinnert an den Irak und den Islamischen Staat: Der IS konnte im Nordirak 2014 einen Teil der gut gefüllten Lagerhallen der Bagdader Regierungsarmee erbeuten. Da auch in Afghanistan niemand mit der Flucht der Armee gerechnet hatte, dürfte beim Zusammenbruch der afghanischen Truppen nur ein Bruchteil dieses Arsenals vernichtet worden sein. Zudem haben auch die US-Truppen bei ihrem schrittweisen Abzug Waffen zurückgelassen: für die Regierungsarmee. Die Taliban können sich also noch besser bewaffnen und von ihren Pick-up-Trucks und Motorrädern umsteigen auf gepanzerte Geländewagen. So könnte aus der leicht bewaffneten Streitmacht der Sandalen-Krieger so etwas wie eine kleine Armee werden: Selbst Teile der Luftwaffe sollen unzerstört stehen gelassen worden sein.
Die Taliban können frühere Regierungspiloten und Spezialisten zwingen, für sie zu arbeiten. Sie kennen die Namen der Ex-Offiziere.
Die Frage ist, ob die neuen Herren des Landes all die Fahrzeuge warten können. Dies haben bisher private US-Firmen getan. Ebenso die Tucano-Jets und die etwa 150 Helikopter, die im Bericht des «US-Special Inspectors für den Aufbau Afghanistans» aufgelistet sind. Ohne Techniker und Piloten können die Taliban, die sicher von einer eigenen Luftwaffe träumen, die Tucano-Jets und Black-Hawk-Hubschrauber nicht einsetzen. Aber sie könnten die früheren Regierungspiloten und Spezialisten zwingen, für sie zu arbeiten. Die Taliban kennen die Namen der Ex-Offiziere und scheuen vor Gewalt nicht zurück.
Eine von CNN zitierte Quelle im US-Kongress sieht noch eine Gefahr: Die Waffen könnten in die Hände anderer US-Gegner gelangen: Russland, China oder Iran. «Wir müssen befürchten, dass Waffen an unsere Feinde oder an nicht staatliche Akteure verkauft werden», hiess es. «Die können sie gegen uns und unsere Verbündeten einsetzen.»
Fehler gefunden?Jetzt melden.