Hamas setzt Israel unter DruckWie ein kranker Mann zwischen die Fronten geriet
Seit Jahren ist Hisham al-Sayed aus Israel eine Geisel der Hamas. Nun wollen die Herrscher über Gaza einen Gefangenenaustausch erzwingen. Eine persönliche Leidensgeschichte wird zum politischen Psychokrimi.

Einen jungen Mann sieht man, gebettet auf ein schäbiges Lager. Der Kopf ruht auf einem geblümten Kissen, der Körper ist eingehüllt in eine Wolldecke, über Mund und Nase spannt sich eine Sauerstoffmaske. So liegt Hisham al-Sayed irgendwo im Gazastreifen, als israelische Geisel in den Händen der Hamas. Die Geiselnehmer haben diese Videoaufnahmen veröffentlicht, verbunden mit einer knappen Erklärung, in der eine Drohung mitschwingt: Al-Sayed sei schwer erkrankt – wenn er überleben soll, müsse Israel schnell handeln.
Hinter den 39 Sekunden des Videos steckt ein jahrelanges Drama, das persönliche Leidensgeschichte und politischer Psychokrimi zugleich ist. Hisham al-Sayed wird von der Hamas festgehalten, seitdem er 2015 freiwillig über den Zaun in die von Israel abgeriegelte palästinensische Küstenenklave geklettert war. Auf dem gleichen Weg war im Jahr zuvor bereits ein anderer Israeli in Gefangenschaft geraten: der aus Ashqelon stammende Avera Mengistu. Beide sollen psychische Probleme haben, doch für die Hamas sind diese Geiseln mehr wert als Gold. Denn frei kommen sollen sie nur im Tauschgeschäft gegen palästinensische Häftlinge in israelischen Gefängnissen.
Al-Sayed und Mengistu stammen beide aus gesellschaftlichen Randgruppen.
Für Israel wiederholt sich damit eine traumatische Geschichte – die des jungen Soldaten Gilad Schalit, der 2006 bei einem palästinensischen Überfall im Grenzgebiet in Geiselhaft geraten war. Erst fünfeinhalb Jahre später war er im Zuge eines Gefangenenaustauschs freigekommen. Einen Unterschied allerdings gibt es zu damals: Schalits Schicksal hatte über all die Jahre das ganze Land aufgewühlt. Er war der verlorene Sohn einer ganzen Nation, dessen Martyrium mit Protestzügen und Protestzelten im öffentlichen Bewusstsein gehalten wurde. Von al-Sayed und Mengistu dagegen hat man kaum etwas gehört in den zurückliegenden Jahren.
Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die beiden nicht wie Schalit beim Dienst fürs Vaterland in Geiselhaft geraten waren, sondern sich offenbar als Folge ihrer Krankheit selbst in Gefahr begeben hatten. Doch noch aus einem anderen Grund eignet sich ihr Fall weit weniger zur kollektiven Identifikation: Al-Sayed ist ein arabischer Beduine aus der Negev-Wüste, Mengistus Familie war aus Äthiopien nach Israel eingewandert. Beide stammen also aus gesellschaftlichen Randgruppen.
Fälschlich als «gefangene Soldaten» bezeichnet
Für die Hamas zählt jedoch allein, dass die beiden einen israelischen Pass besitzen, und in öffentlichen Verlautbarungen aus Gaza werden sie stets fälschlich als «gefangene Soldaten» bezeichnet. In Verhandlungen, die zumeist von ägyptischen Vermittlern geführt werden, ist ihre Freilassung verknüpft worden mit dem Schicksal zweier israelischer Soldaten. Hadar Goldin und Oren Schaul sind im Gazakrieg 2014 gefallen, ihre Leichname befinden sich ebenfalls in den Händen der Hamas. Zwei Tote und zwei lebende Israelis – für die Herrscher aus Gaza ist das ein Faustpfand für druckvolle Forderungen.

Israel ist jedoch sehr zurückhaltend geworden in Sachen Gefangenenaustausch. Als der junge Soldat 2011 nach Israel zurückkehrte, zogen 1027 freigelassene palästinensische Häftlinge im Triumphzug in den Gazastreifen ein. Massenhochzeiten wurden für die heimgekehrten Helden organisiert, die Hamas feierte einen gewaltigen Sieg, und Israel musste erleben, dass sich viele der Freigelassenen gleich wieder in den Kampf stürzten. Auch Yahya Sinwar, der heute die Hamas in Gaza anführt, zählt dazu.
Israels Regierung reagierte auf das Video mit Empörung. Premierminister Naftali Bennett nannte die Veröffentlichung «abscheulich und schändlich». Mit gemischten Gefühlen reagierte der Vater von Hisham al-Sayed auf die Bilder. «Es ist das erste Mal seit sieben Jahren, dass ich ihn sehe», sagte er. «Für mich sieht er gesund aus.» An die Hamas richtete er einen eindringlichen Appell: «Lasst ihn sofort frei. Er hat nichts zu tun mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt.»
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