
Seit geraumer Zeit wundert mich, dass die politische Diskussion auf die Gegensatzpaare gut und böse, richtig und falsch reduziert wird, als lebten wir im Mittelalter. Jeder ist im Besitz des guten und richtigen Weltbildes, der Andersdenkende dumm und böse. Sollte man nicht aus psychologischer Sicht fragen, wie Meinungen entstehen? Z. B. mit Bezug auf die «Big Five»-Persönlichkeitsfaktoren? Das könnte viel stressfreier erklären, warum Sie links sind und ich rechts bin. Offenheit für Neues bei den einen, Verlässlichkeit/Beständigkeit oder so ähnlich bei den andern. Die Mainstreammedien haben ja auch schon herausgefunden, dass Rechte ängstlicher, hasserfüllter und dümmer sind als Linke. Das ist doch schon mal ein Schritt auf eine psychologisch-wissenschaftliche Metaebene. Zwar lautet das Ergebnis auch, dass der Andersdenkende dumm und böse ist. Aber jetzt ist es sogar wissenschaftlich fundiert!J. S.
Lieber Herr S.
Bevor ich auf Ihre Frage eingehe, sollte ich wohl noch kurz sagen, was das «Big Five»-Persönlichkeitsmodell ist. Es stammt bereits aus den 30er-Jahren und versucht, einen Menschen aufgrund von fünf Persönlichkeitsmerkmalen zu charakterisieren: Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extroversion, Verträglichkeit und Neurotizismus. In Bezug auf die Nähe zu politischen Positionen zeigen diese Dimensionen der Persönlichkeit tatsächlich eine gewisse Trennschärfe. So haben Linke (nicht gerade überraschend) im Allgemeinen eher hohe Werte auf der Offenheitsskala und niedrigere bei der Gewissenhaftigkeit, während Rechte tatsächlich beim Neurotizismus (zu dem das Merkmal der Ängstlichkeit gehört) höher punkten. Nimmt man aber konkretes politisches Verhalten statt einer groben politischen (Selbst-) Einschätzung, wird die Angelegenheit schon unübersichtlicher.
So wanderten bei den Bundestagswahlen in Deutschland fast 400'000 Wähler*innen von den Linken zur AfD. Da man annimmt, dass die «Big Five»-Merkmale über die Zeit ziemlich stabil sind, kann man daraus einerseits auf bestimmte strukturelle Ähnlichkeiten zwischen links und rechts schliessen. In diesem besonderen Fall würde ich das – ganz unwissenschaftlich – eine ähnliche Ressentiment-Getriebenheit der Politik nennen, die man in einem zweiten Schritt vielleicht durchaus auch mit dem «Big Five»-Modell abbilden kann.
Dazu müsste man aber andererseits das klassische, durch Parteien repräsentierte Links-rechts-Schema aufgeben. Dann gäbe es in manchen, wenn nicht allen Parteien sowohl «linke» als auch «rechte» Positionen. Das entspricht ja durchaus der Realität. Gerade die jungen extrem Rechten praktizieren immer wieder eine Politik, die sich an vormals linken Protestformen orientiert. Und auch der Argwohn gegenüber dem Staat ist tendenziell von links nach rechts gerückt. Mit anderen Worten: Das eher statische «Big Five»-Modell scheint mir nicht besonders geeignet zu sein, solche Bewegungen nachzuvollziehen.
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Wie entstehen politische Positionen?
Über Meinungen, Weltbilder und das «Big Five»-Persönlichkeitsmodell.