
Ich sitze auf einem Stuhl auf der Probebühne des Opernhauses und kriege einen Hitzeschub. Hier wird gerade meine Schamgrenze mit Meilenstiefeln übertreten. Wie konnte es so weit kommen?
Normalerweise ist Musiktheaterpädagoge Roger Lämmli da, heute Anna Gitschthaler. Sie ist freischaffende Sängerin. Ihre Aufgabe ist es, auf der Probebühne des Opernhauses die Teilnehmenden des Workshops «Open Space Stimme» mit der eigenen Stimme experimentieren zu lassen.
Knapp 20 Personen machen an diesem Dienstag bei dem Gratisangebot des Opernhauses Zürich mit. Draussen scheint noch die Sonne, ein Grund vielleicht, dass sie nicht mehr seien, sagt eine Teilnehmerin. Viele Frauen finden sich ein – und ein paar Männer. Das Alter reicht von 20 bis 60 Jahren. Darunter sind Neulinge wie ich und viele Wiederholungstäterinnen.
Der Raum ist genug gross für alle, der Boden schwarz, ein Flügel steht da. Auf diesem werden Gitschthaler und eine dazustossende Pianistin später noch spielen. Aber erst lässt die Sängerin uns in einem Kreis aufstellen, um uns ein wenig locker zu machen. Mit der Hüfte sollen wir unseren Namen schreiben. «Mit Nachnamen!» Dafür brauche ich, mit Bindestrich, am längsten.
Weiter gibt es verschiedene Atemübungen: Es wird tief eingeatmet und auf verschiedene Arten ausgeatmet. Mal langsam, mal in schnellen Stössen. Irgendwann wird mir ein bisschen schwindlig, und ich muss kurz pausieren. Darf man. Auch einfach aufs WC gehen oder sich mal hinsetzen. Das hat Gitschthaler in der Einführung betont. Alles kann, nichts muss.

Wir trommeln uns mit den Fingerspitzen auf den Kopf, auf die Brust, schütteln uns kopfüber. Wir schreiten in grossen Schritten und trippeln durch den Raum, kreisen mit der Zunge im Mund, lassen sie raushängen, muhen wie Kühe. Wer dazu tendiert, sich seiner zu schämen, kommt hier definitiv an seine Grenzen. So wird es auch mir noch ergehen. Dazu später. Erst einmal scheitere ich an der Übung, auf einem Bein zu stehen, dabei gleichzeitig den schwebenden Fuss plus die in die Luft gereckten Hände in der Luft kreisen zu lassen und dabei auch noch mit dem Kopf zu nicken. Dass ich dabei andauernd das Gleichgewicht verliere, stört ausser mich niemanden.
Und dann ist Singen angesagt. Langsam nähern wir uns inhaltlich einem Auszug aus Mozarts «Zauberflöte». Den Text singen wir nicht gleich, sondern sprechen ihn erst. Gehen dabei im Kreis, intonieren den Text mal hochnäsig, lieblich, wütend, schüchtern. Jeder und jede gerade so, wie er oder sie will. Denn auch schauspielerische Improvisation will hier erkundet werden. Anschliessend lernen wir die Melodie kennen. Sie ist mir, wie den meisten, bekannt, darum schneide ich hier für mich beim gemeinsamen Singen gar nicht so schlecht ab. Auch bei den weiteren Liedern, die wir erarbeiten, klappt das.
Bis zu einem gewissen Punkt. Und der wirft mich komplett aus der Mitmachlust raus: Wir sollen uns setzen. Das Licht wird abgedunkelt. Stimmimprovisation ist angesagt. Assoziative Lautmalerei. Thema: Papageno, lustig, heissa, hopsasa! Mir wird heiss und klamm. Ich ziehe mich in mich zurück wie eine Schnecke in ihr Häuschen. Das Aus-mir-raus-Kommen, Geräusche-in-mir-Entdecken und aus mir rauslassen, das pack ich nicht. Um mich herum aber wird leise gepfiffen, ein Windhauch imitiert, fragend und antwortend «Papa» in den Raum gerufen, jemand schnalzt mit der Zunge, wer anderes gurrt. Ich sitze nur da. Und mache gar nichts. Ist aber auch okay. Man muss ja nicht.

Gitschthaler dreht das Licht wieder auf, und wir erlernen den «Abendsegen» von Humperdinck. Kenne ich nicht und auch das Liedblatt, das verteilt wird, ist für mich keine Hilfe: Ich kann keine Noten lesen. Und sowieso, seit dem Gezische, Geschnalze und Gemurmel bin ich fertig. Schade eigentlich und bedenklich, denn ich scheine der Einzige zu sein, dem es so geht, alle anderen sind immer noch voll dabei.
Wir sind da aber schon fast am Ende des Angebots angekommen. Alle Lieder werden noch einmal rekapituliert, nach zwei Stunden verabschieden wir uns. Viele werden wieder kommen. Ich müsste mir davor erst einmal Gedanken über mich selber machen: Habe ich eigentlich ein Problem mit der Scham? Die Selbstreflexion schiebe ich aber erst mal auf. Erst brauche ich mal ein Bier. Der Hitzeschub muss abgekühlt werden.
Open Space Stimme, nächster Termin: Di 9.5., 19 Uhr. Keine Anmeldung nötig. Opernhaus Probebühne, Kreuzstr. 5. opernhaus.ch
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Gratisangebot des Opernhauses – Wie ich auf der Probebühne kapitulierte
Beim Angebot «Open Space Stimme» wird mit der Stimme experimentiert und schauspielerische Improvisation geübt. Der Autor kam nicht nur einmal an seine Grenzen.