Wie klimaschädigend ist Videostreaming wirklich?
Informatikprofessor Lorenz Hilty zur CO2-Bilanz von Netflix & Co.

In letzter Zeit war zu lesen, das Streamen von Online-Videos sei mindestens so klimaschädigend wie der zivile Flugverkehr. Stimmt das?
Nein. Vergleichen wir einmal die Aktivitäten: Ich schaue eine Stunde Netflix auf dem Handy oder ich sitze eine Stunde im Flugzeug. Im ersten Fall verbrauche ich Elektrizität, für deren Erzeugung 28 Gramm CO2 emittiert werden. Schaue ich auf einen Flachbildfernseher, steigen die Emissionen auf 150 Gramm pro Stunde. Im Flugzeug dagegen erzeuge ich 130 Kilogramm CO2 pro Stunde. Die Emissionen sind also rund 1000-mal höher.
Trotzdem schrieb die französische Denkfabrik The Shift Project jüngst in einem Papier, dass der Informations- und Kommunikationstechnologie-Sektor mit rund 4 Prozent Anteil doppelt so viel CO2 ausstösst wie der Flugverkehr.
Der Vergleich ist nicht fair. Die Zahl für den Flugverkehr müsste mindestens doppelt so hoch sein, würde man die Klimawirksamkeit der in grosser Höhe ausgestossenen Gase berücksichtigen.
«Pauschale Vergleiche vernebeln die Verhältnisse und fördern die Verunsicherung.»
Die Frage ist bei solchen Vergleichen: Wird die Herstellung in die Rechnung einbezogen oder nicht?
Das macht es nicht einfacher, ja. Unsere mobilen Geräte sind sehr energiesparend, weshalb der grösste Anteil der CO2-Emissionen auf die Herstellung der Geräte entfällt. Umgekehrt ist es bei den Servern und Routern, über die wir die Videostreams geschickt bekommen und die permanent in Betrieb sind. Entscheidend beim Vergleichen ist jedenfalls die Gleichbehandlung. Die NZZ titelte «Streaming ist das neue Fliegen», rechnete aber nur auf der Seite des Streamings die Herstellung der Geräte mit ein.
Handelt es sich beim offensiven Vergleichen um einen Klassenkampf von oben? Im Sinne von: «Ich werde sicher nicht auf meine Flugreisen verzichten, aber die Jungen sollen bitteschön weniger Handyfilmchen schauen.»
Das will ich niemandem unterstellen. Pauschale Vergleiche vernebeln aber die tatsächlichen Verhältnisse und fördern die Verunsicherung, weil sich die Leute sagen: «Offenbar ist es egal, was ich tue, es schadet ja alles irgendwie dem Klima.» Es spielt aber eine sehr grosse Rolle, wie man seine Zeit verbringt.
Wie klimaschädigend ist Videostreaming wirklich?
Streaming ist definitiv das energieintensivste, was man im Internet machen kann. Dennoch ist es nicht belastender, als einen Raum zu beleuchten. Nur in der Summe hat das Streaming einen relevanten Effekt. Er kommt dadurch zustande, dass sehr viel gestreamt wird, allein auf Youtube sind es eine Milliarde Stunden pro Tag. Laut einer Studieder Universität Bristol entspricht der weltweite CO2-Ausstoss von Youtube jenem der Stadt Glasgow. Aber man muss sich vor Augen halten, dass 57 Prozent aller Menschen heute Zugang zum Internet haben, 34 Prozent haben ein Smartphone. Dagegen sind es nur rund 3 Prozent der Weltbevölkerung, die regelmässig fliegen.
The Shift Project empfiehlt trotzdem die politische Regulierung der Streamingangebote. Kommen Klimaabgaben wie beim Flugverkehr auf uns zu?
Da würde man einen politischen Nebenschauplatz aufmachen. Das Licht im Wohnzimmer brennen zu lassen, will ja auch niemand regulieren. Zentral sind zwei andere Dinge: dass wir Strom aus erneuerbaren Quellen gewinnen und im Energiebereich die Fehlanreize beseitigen. Es sollte für jeden klar spürbar werden, womit er am meisten Energie verbraucht. Das ist ein Problem des Internets: Der Strom, der dafür ausserhalb der eigenen vier Wände verbraucht wird, steht nie auf der Stromrechnung.
Gemäss Studien könnten Anbieter wie Youtube auch den «digitalen Müll» reduzieren. Was ist das?
Ein grosser Teil des Youtube-Streamings entfällt auf Musik. Da wird überflüssigerweise nicht nur Ton, sondern auch ein Videostream mitgeschickt, auch wenn es darauf nicht viel zu sehen gibt. Das macht aber den grössten Teil des Energieaufwands aus und wird deshalb als «digital waste» bezeichnet. Es ist überflüssiger Abfall, genauso wie animierte Werbung auf Websites, die mehr Energie benötigt als die Information, die ich gesucht habe.
Wie sensibel ist die Klimajugend für das Thema? Wird es mal eine «Streamingscham» geben?
Kann sein, aber vielleicht eher aus sozialen Gründen als aus solchen, die mit dem Klima zu tun haben. Sicher wäre es sinnvoll, wenn sich die Leute zum Beispiel stärker bewusst machen würden, dass gewisse Angebote darauf ausgerichtet sind, Abhängigkeit zu erzeugen.
«Ein Flug in die USA entspricht der Vernichtung einer Privatbibliothek»
Also müssen wir nicht zu digitalen Abstinenzlern werden, wie das die Denkfabrik vorschlägt?
Laut Faustregel verdoppelt sich alle 19 Monate die Energieeffizenz der Informationstechnologie. So wurden gewaltige technische Sprünge möglich, aber es hat auch dazu geführt, dass die Bildauflösung immer mehr erhöht wurde – einfach nur, weil man es kann. Für den Nutzer gibt es folglich keinerlei Anreize, sich in dieser Hinsicht zu begrenzen.
Noch ein letzter Vergleich bitte: Was ist klimaschädigender, E-Books oder gedruckte Bücher?
Der Lebensweg eines gedruckten Buches erzeugt gemäss einer schwedischen Studie etwa 1,2 Kilogramm CO2. Die Herstellung eines E-Book-Readers verursacht etwa das 30- bis 40-Fache, weshalb man ungefähr 35 E-Books lesen muss, bis es sich für das Klima auszahlt, dass man keine gedruckten Bücher mehr kauft. Die traurige Pointe ist aber eine andere.
Was ist die traurige Pointe?
Angenommen, ich werfe ein gedrucktes Buch nach dem Lesen weg, dann verschwende ich ein Produkt, für das bei der Herstellung rund 1,2 Kilo CO2 ausgestossen worden sind. Vergleicht man das mit dem Fliegen, könnte ich zwei Bücher wegwerfen – pro Minute. Rein auf den CO2-Ausstoss bezogen, entspricht ein Flug in die USA der Vernichtung einer Privatbibliothek.
Richtig rechnen
Laut Lorenz Hilty ist es wenig hilfreich, die Klimabelastungen von ganzen Industriesektoren miteinander zu vergleichen und die Belastungen dann einzelnen Dienstleistungen zuzurechnen. The Shift Project arbeite mit einer «fragwürdigen Methode», da der Energieverbrauch des Informations- und Kommunikationstechnologiesektors nach Datenvolumen auf die verschiedenen Dienstleistungen aufgeteilt werde. Übertragungsintensive Dienstleistungen wie Streaming kämen dabei zu schlecht weg, verarbeitungsintensive dafür zu gut. So entstehe ein Wert von rund 1000 Watt elektrische Leistung pro Videostream, was das 10- bis 20-Fache der sonst publizierten wissenschaftlichen Abschätzungen darstelle. «Aber auch wenn die Zahl von 1000 Watt stimmen würde, wäre der Unterschied zwischen Streamen und Fliegen noch sehr gross.»
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