Wie lange soll man für die Beziehung kämpfen?
Wenn man nicht glücklich ist, soll man gehen, sagt Autor Thomas Meyer. Und sorgt damit für Unverständnis.

Haben Sie sich heute schon getrennt? Nein? Glückwunsch. Geht mir genauso, und ich sehe darin durchaus Grund zur Freude. Möglich, dass Sie und ich zu jenen 20 Prozent gehören, die in einer glücklichen Liebesbeziehung sind – oder sich schlicht etwas vormachen. Denn glaubt man dem Autor Thomas Meyer, so müssten «vier von fünf Beziehungen sofort aufgelöst werden». Sie haben richtig gelesen. Dieser Herr behauptet, dass die meisten Paare nur aus Feigheit zusammenbleiben würden: «Statt Schluss zu machen, harren sie aus und versuchen, ihren Partner dazu zu bringen, sich so zu verhalten, wie sie es gern hätten», sagte er in einem Interview mit der «SonntagsZeitung».
Selbstverständlich steht Thomas Meyer hierbei auf der «mutigen» Seite: Er hatte sich – «weil ich ehrlich bin» – von der Mutter seines Sohnes getrennt, als dieser nur vier Monate alt war. Das sei extrem schwierig gewesen. Doch wenn man nicht glücklich sei, solle man gehen, sagt er: «Mein Bedürfnis war ein Leben in Freude und Frieden, und dieses Bedürfnis ist höher zu gewichten als die sogenannt intakte Familie.»
Nun, das ist mal eine Ansage. Details zur Beziehung und den Gründen der Trennung kennen wir selbstverständlich nicht, und es liegt mir fern, Spekulationen darüber anzustellen. Und obschon mir bewusst ist, dass hinter Meyers Sätzen einiges an Kalkül steckt (nächstes Frühjahr erscheint sein Buch «Trennt euch!»), empfinde ich seine Aussagen als anmassend und egoistisch.
Und plötzlich ist alles anders
Weiss dieser Mann eigentlich, was Familie bedeutet, ist man geneigt zu fragen. Hat er verstanden, wie schwer für ein Paar gerade die Anfangszeit mit Baby ist? Kaum etwas ist mehr so wie zuvor. Beide, Mann und Frau, müssen sich erst einmal auf die neue Situation und das veränderte Leben einstellen; mit Baby-Blues, Milchstau, Erschöpfung, Lustlosigkeit, Ängsten, anderen Tagesrhythmen, Rollenverteilungen, Wiedereinstieg in den Beruf, Betreuungsfragen, und und und. Diese erste Zeit als Familie ist für die meisten Eltern keine Spazierfahrt – und gerade deshalb gilt, mehr denn je zusammenzuhalten, Verantwortung zu übernehmen, füreinander da zu sein und nach passenden Lösungen zu suchen.
Klar, dass bei all dem die Beziehung als Paar während des ersten halben Jahres in den Hintergrund rückt und Erotik auf einem Nebengleis (um nicht zu sagen, Abstellgleis) zu stehen kommt. Es handelt sich dabei um eine Übergangsphase, derer sich die jungen Eltern gewahr sein müssen. Wenn also Meyer sagt, er sei schon nach vier Monaten gegangen, so kann ich seine Äusserungen punkto Beziehung nicht recht ernst nehmen. Denn Beziehung bedeutet Arbeit und als Familie erst recht.
Wenn Trennung die Lösung ist
In gewissen Punkten allerdings gehe ich mit dem Autor einig: dass Mann und Frau als Paar nicht vollständig verschmelzen sollen, etwa. Sie sollen sich Freiraum schenken, Individuen bleiben und «sich stets ein wenig fremd bleiben», wie Meyer schön sagt. Denn eins und eins ergibt nicht eins, sondern zwei – auch in einer Beziehung. Und wenn man auf lange Dauer nicht glücklich wird als Paar und nach einer Zeit des Probierens, Therapierens und Kämpfens nicht weiterkommt, so ist eine Trennung wohl nicht das Schlechteste. Das gilt für die beiden Erwachsenen als auch für die Kinder, denn diese leiden fast immer mit. Wie und wann allerdings ein solcher Schnitt geschehen soll, darauf muss jedes Paar oder jeder Einzelne für sich selbst eine Antwort finden.
«Wenn man nicht glücklich ist, soll man gehen», sagt Thomas Meyer. Was sagen Sie?
Dieser Artikel wurde erstmals am 30. August 2016 publiziert und am 7. Mai 2023 in dieses Redaktionssystem übertragen.
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