«Bund im Gespräch» im Liveticker«Neutralität wird oft mit Gleichgültigkeit verwechselt»
Wieso liefert die Schweiz keine Waffen in die Ukraine? Und ist die Neutralität reine Bequemlichkeit? Bundesrat Ignazio Cassis hat im «Bund» im Gespräch dazu Stellung genommen.
Nach 90 Minuten endet das «Bund» im Gespräch. Der nächste Talk findet im April im Bierhübeli statt. Wir hoffen Sie vor Ort oder per Liveticker begrüssen zu dürfen.
Nun wird die Diskussion geöffnet. Was will das Publikum von Bundesrat Cassis wissen? Zunächst wird Cassis von einer Frau gelobt, dass er das Gespräch auf Deutsch, für ihn also eine Fremdsprache, geführt hat.
Kann die Schweiz trotz «Zeitenwende» weitermachen wie bisher? Ist das nicht eher Bequemlichkeit oder gar Feigheit, will ein Mann wissen. «Ich habe nicht gesagt, die Schweiz soll weitermachen, wie bisher. Aber der Bundesrat ist zum Schluss gekommen, die Schweiz kann sich flexibel und pragmatisch an die neue Situation anpassen.» Kooperationen mit gleichgesinnten Ländern der EU seien verstärkt worden. «Die Essenz der Neutralität wurde aber nicht geändert. Denn das wäre falsch.» Denn sie habe die Schweiz in der Vergangenheit gut geschützt. «Uns von diesem Instrument aus Solidarität zu befreien, wäre ein Fehler.»
Nächste Frage: Wie steht Cassis zu den sanktionierten Vermögen in der Schweiz. Wie sollen sie verwendet werden? « Privates Eigentum kann in der Schweiz nicht eingezogen werden», sagt Cassis. Und um solches handle es sich grösstenteils bei den sanktionierten Geldern. Dieses Geld sei also eingefroren und können nicht verwendet werden. «Das Einziehen des Geldes wäre aber eine Enteignung und das verstösst gegen Menschenrecht.» Um ein solches Recht zu brechen, müssten einige Kriterien wie zum Beispiel die Verhältnismässigkeit erfüllt werden. Weltweit würden nun aber Diskussionen geführt werden, welche Wege denn überhaupt möglich seien in dieser Frage. «Auch die Schweiz nimmt daran teil. Wie die Frage weiterläuft, werden wir in den nächsten Jahren sehen.» Rechtlich gesehen, sei das aber eine «ganz, ganz schwierige Frage». Denn Unrecht dürfe nicht mit Unrecht bekämpft werden.
Eine weitere Frage: Steht die Übernahme von Sanktionen im Wiederspruch mit der Neutralität? «Nein, nicht solange wir nicht in das militärische Geschehen eingreifen.» Dass Russland sagt, die Schweiz sei nicht mehr neutral, sei nicht überraschend.
Nächste Frage: Ein Mann will wissen, ob Cassis nicht auch ein schlechtes Gewissen hat, neutral zu bleiben. «Ein Krieg zu beginnen ist einfach, ihn zu beenden, ist schwierig», sagt Cassis. «Man muss sich fünfmal überlegen, ob man sich daran beteiligen will.» Für die USA sei der Krieg etwas normales, weil er ständig in einen verwickelt sei. «Aber die Schweiz hat seit 500 Jahren nicht mehr an einem Krieg teilgenommen. Wir sind also nicht die erste Generation, die militärischer Gewalt ausgesetzt war.»
Eine weitere Frage: Nutzen die Sanktionen gegen Russland überhaupt etwas? «Die Fachleute sind sehr unsicher über die Wirksamkeit von Sanktionen», sagt Cassis. «Was ist aber die Alternative», fragt er. «Wenn ein grosser Staat einen kleineren angreift, dann versucht man, dass diesem das Geld ausgeht. Weil ohne Geld gibt es keinen Krieg.» Russland sei nach einem Jahr das Geld also nicht ausgegangen. Aber: «Die wirtschaftliche Lage Russlands verschlechtert sich. Die Regierung kann ihr Geld nicht nur für Krieg ausgeben. Spätestens wenn die Bevölkerung hungert, wird es etwas dagegen tun.»
Letzte Frage: Wieso produziert und exportiert die Schweiz so viele Waffen, wenn sie eigentlich neutral sein will? Cassis verweist auf das Kriegsmaterialgesetz. «Nach Saudi-Arabien liefern wir beispielsweise seit Jahren keine Waffen mehr.» In anderen Ländern wie im Jemen sei die Lage unklar. «Da sind wir sehr vorsichtig.» Die Schweiz liefere aber viel weniger Kriegsmaterial als unsere Nachbarländer. Aber wieso liefert die Schweiz dann überhaupt Waffen? «Es geht um Sicherheit und Unabhängigkeit. Dazu braucht es die Armee und diese muss ausgerüstet werden.»
Allerletzte Frage: Nun geht es um China. Wie neutral ist die Schweiz in der Uiguren-Frage? «Hier wird wieder Neutralität mit Gleichgültigkeit verwechselt.» Die Schweiz verurteile ganz klar die Menschenrechtsverletzungen der Uiguren. «China weiss, dass die ganze Welt auf diese Situation schaut. Die grossen Nationen können da aber grösseren Druck aufbauen. Aber steter Tropfen höhlt den Stein.»
Der Ukraine-Krieg hat eine Blockbildung beschleunigt, die sowieso im Gange war. Sieht Cassis das Risiko für unser Land, dass wir im Aussenhandel immer mehr zwischen Hammer und Amboss gelangen werden? «Diese Gefahr besteht», sagt Cassis. Die Schweiz gerate momentan zwischen verschiedene Ansprüche auf dem internationalen Markt. «Es ist unbequem in dieser Situation zu sein.» Es gehe nun aber darum, die Schweiz so gut wie möglich zu platzieren.
Gestaltungswillen - Cassis reiste , wenn andere zuhause blieben, er organisierte die Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine in Lugano - wenn andere sagten, dass sei viel zu früh - was war sein übergeordnetes Ziel für die Schweiz? «Meine Vision ist, das wir unsere Freiheit und Unabhängigkeit behalten können. Unser Weg war immer, sich in Nischen bewegen.» Das habe der Schweiz immer ein gutes Schicksal verschafft. «Wir sind weltweit bekannt für unsere gute Dienste.» Ändere sich das, dann schade das der Schweiz.
Müssen wir denn dem Druck aus dem Ausland stattgeben? Schaffen wir nicht einen gefährlichen Präzedenzfall, der das Prinzip der Neutralität untergräbt? «Diese Frage wir zuletzt das Volk beantworten.» Der Druck sei im Moment nicht immens, aber er sei da, sagt Cassis. «Aber wir wurden nicht in den Bundesrat gewählt, um ein einfaches Leben zu führen.» Gewisse Wege könne man noch lange gehen, bevor es eine Wende gebe. «Wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir keine militärische Weltmacht sind. Etwas Vorsicht und Demut ist immer gut.»
Was halten Cassis von der Idee, Schweizer alte Leo-Panzer and Länder zu verkaufen, die Waffen in die Ukraine liefern? «Das sind Ideen, die nun geprüft werden müssen. Wie weit ist weit genug oder zu weit», fragt er sich.
Früher ging es um sanktionierte russischen Vermögen - jetzt um Waffenlieferungen. Zum Beispiel Deutschland möchte Waffen und Munition aus der Schweiz in die Ukraine exportieren können - und das geht ja nicht, weil die Schweiz bei Kriegsmaterialverkäufen ins Ausland eine Wiederausfuhr verbietet. Warum brennt diese Frage so und warum ist sie so heikel für die Schweiz. «Wir haben den Waffenexport mit einem Gesetzt seit vielen Jahren geregelt. Waffen in Kriegsgebiete zu liefern ist also verboten», sagt Cassis. Es sei aber auch nicht zu akzeptieren, dass Waffen über Umwege in Kriegsgebiete landen. Es gab bis vor ein paar Jahren aber einen kleinen Handlungsspielraum für Ausnahmen. «Diese gibt es aber heute nicht mehr.» Die gleichen Kreise, die damals für die Verhärtung des Exportgesetztes waren, würden nun wieder Lockerungen wollen.
Im Parlament gibt es ernstzunehmende Vorstösse das Gesetz anpassen, und Sonderregelungungen für die kommenden Jahre zu erlassen. Wie steht Cassis dazu? «Der Bundesrat ist grundsätzlich dagegen.» Es komme jedoch auf die Umsetzung an. «Die Regelung müsste neutralitätskonform sein.» Es müsse eine Lösung gefunden werden, die das Gleichbehandlungsgebot der Neutralität nicht verletzte. Klingt das nicht etwas nach einer Schlaumeierei, will Jacobi wissen. «Nein, es ist das Gesetz», sagt Cassis. «Und schlussendlich hat das Volk das letzte Wort.»
«Kein Land hat daran geglaubt, dass der Krieg tatsächlich ausbrechen wird. Auch wir nicht. Wir waren also in guter Begleitung in unserer Leseart der Welt.» Doch die USA hat schon länger vor dem Krieg gewarnt. «Sie haben sich zwar im Datum getäuscht, hatten aber schlussendlich Recht.» Man müsse anerkennen, dass die USA die besseren Informationen haben als die europäischen Staaten. «In Europa waren die Beurteilungen der Nachrichtendienste sehr unterschiedlich.» Dass das ganze Land attackiert werden würde, sei damals das unwahrscheinlichste Szenario gewesen. «Doch im Nachhinein haben wir schnell und gut gehandelt.»
Trotzdem hat es Kritik am Handeln des Bundesrats gehagelt. Zurecht? «In solchen Situationen braucht es immer einen Schuldigen und das ist dann eben meistens der Staat.»
Die Schweizer Neutralität kam sehr schnell unter Druck. Eigentlich bereits in den Tagen nach dem Kriegsausbruch, als es um die Übernahme der EU-Sanktionen ging. In Washington sprach man sofort über die Schweiz - der Bundesrat wirkte überrascht von der Vehemenz, dass die Schweiz die EU-Sanktionen voll übernimmt - war das so? «Der Bundesrat hatte einen Entscheid zu fassen: Sollen die Sanktionen übernehmen oder nicht?» Schon bei der Annektion der Krim habe man eine differenzierte Haltung eingenommen. Auch jetzt gehe es wieder um Neutralität und Diplomatie. «In diesem Fall hatten wir zwei Tage Zeit, um das abzuklären. Für die Welt ging das viel zu lange. Für uns war dieses Zeitfenster aber viel zu kurz.» Die Schweiz habe aber in der Geschichte des Bundesrats noch nie etwas so schnell entschieden.
Cassis musste die Position der Schweiz verteidigen im Ausland. Schon im März forderte der polnische Premier Mattheush Morawietzki eine Lockerung der Neutralität und Waffenlieferungen - Cassis sagten klar: Das komme für die neutrale Schweiz nicht in Frage. War er überrascht, wie fadengrad die Forderung kam? Ein diplomatischer Affront? «Nein, das war kein Affront.» Man sei ja nicht als Privatbürger dort, sondern als Staat. «Da muss Klartext gesprochen werden», sagt Cassis. «Man darf nie vergessen, dass man in diesem Moment ein ganzes Land vertritt.»
Wie oft musste er die Neutralität der Schweiz erklären? «Sehr oft und das war nie ein Spaziergang», sagt Cassis. «Dabei geht es nicht nur im die rechtliche Definition. Neutralität bedeutet aber auf keinen Fall Gleichgültigkeit.» Die Schwierigkeit liege darin das Konzept Neutralität korrekt zu erklären. Wieso aber keine Waffen in die Ukraine? «Weil dann müssten wir auch Waffen nach Russland liefern.»
«Zu hören und zu sehen gibt einem ganz andere Eindrücke», sagt Cassis. «Ich will aber auch zeigen, dass wir da sind und solidarisch sind.» Zudem gehe es auch darum, der Schweizer Bevölkerung zu zeigen, dass diese Situation nun wichtig ist.
Im Oktober reisten Cassis nach Kiew und traf Präsident Wolodimir Selenski in einer zerstörten Stadt. Ein Jahr zuvor war er schon einmal da. Wie hat sich die Stadt verändert? «Die Leute waren zuversichtlich und optimistisch. Sie waren zum Beispiel stolz, dass man in der Ukraine in der Digitalisierung weiter war als in der Schweiz.» Ein Jahr später sei das anders gewesen. «Die Sirenen heulten dauernd und der Präsident war sehr besorgt.»
Im März stand Cassis an der polnisch-ukrainischen Grenze mitten unter Flüchtlingen. Welches Erlebnis hat ihn besonders geprägt? «Solche Szenen sind wir uns in der Schweiz nicht gewohnt zu sehen.» Da realisiere man plötzlich, dass die Welt noch die gleiche ist. «Das Wort 'Krieg' gehört nicht zum Vokabular der Schweizer in meinem Alter.» Doch die persönliche Erfahrung habe das schlagartig geändert.
Von einer Ukraine-Müdigkeit will Cassis nichts wissen. Es sei jedoch normal, dass die Solidarität mit der Zeit abnimmt. Von einer «Zeitenwende» sprach der deutsche Kanzler Olaf Scholz, Ist das fast ein Jahr nach Kriegsausbruch noch gültig? Ja, sagt Cassis. «Die Sicherheitsarchitektur in der Schweiz ist zerbrochen und wir wissen nicht, wie wir sie wieder aufbauen können.» Das habe grosse Auswirkungen auf andere Bereiche. Zum Beispiel auf die Energieversorgung. «Da ist schon eine gewisse Mündigkeit im Volk zu spüren.»
Cassis kündigte am World Economic Forum in Davos ein weiteres humanitäres Hilfspaket an fürs erste Halbjahr. Wie weit gediehen ist das Paket - und welche Dimension wird es haben? Cassis spricht von humanitärer Hilfe entlang der Hotspots des Kriegsgebietes. «Die Ausgabe der Bundessteuer beträgt etwa 300 Millionen Franken.» Es gebe jedoch keine klare Übersicht, wie viele Beträge tatsächlich aus der Schweiz in das Krisengebiet gelaufen ist. «Es gibt ja auch noch kantonale und private Beträge.» Das sein nicht selbstverständlich. Schliesslich habe die Pandemiekrise die finanzielle Lage der Schweiz angespannt.
Frau Pivovar lobt die Schweiz, für die Solidarität gegenüber der ukrainischen Bevölkerung. Verdienen wir dieses Lob, will Jacobi wissen. «Ja, wir verdienen diese Lob», sagt Cassis. Die Schweiz habe nach Kriegsbeginn sehr schnell reagiert und viele Menschen aus der Ukraine aufgenommen. Auch spricht er der Schweizer Bevölkerung ein Lob aus, die 50'000 Plätze für Flüchtete zur Verfügung gestellt hat.
Nun wird die Perspektive gewechselt. «Bund»-Chefredaktorin Isabelle Jacobi bittet Bundesrat Ignazio Cassis auf die Bühne. Als Aussenminster ist er federführend bei der Positionierung der Schweiz für die Welt der Zukunft. Cassis zeigte vergangenes Jahr Gestaltungswillen in einem schwierigen Umfeld - er hat die Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine in Lugano organisiert, und er plädiert im Bundesrat für eine offensive Debatte der Neutralitätsfrage.
Der Ukraine-Krieg prägte sein Präsidialjahr. Er reiste zweimal in die Krisen-Region, im März nach Polen und Moldawien, und im Oktober nach Kiew, wo er Präsident Wolodimir Selenski traf.
«Die Leute geben mir Hoffnung. Sie sind solidarisch und unterstützen sich gegenseitig. In der Schweiz, wie auch in der Ukraine.» Sie sei eine Optimistin, sagt Pivovar.
Pivovar hat aufgehört, Zukunftspläne zu schmieden. «Ich schaue höchstens einen Monat voraus. Alles andere macht keinen Sinn.»
«In meinem Umfeld interessieren sich sehr viele für den Krieg, aber vielleicht auch, weil ich in der Nähe bin.» Sie glaubt, dass auch einmal eine gewisse Kriegsmüdigkeit eintreten könnte.
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