Wie wärs mit 8,5 Stunden «Faust»?
Das Eröffnungsfestival am Zürcher Schauspielhaus hat gewaltig begonnen.

Die Deckenlichter im rappelvollen Pfauenfoyer machten Stimmung: Zartlila und softpink, himmelblau und seerosenblattgrün, ein sanftes Sommerabendorange war auch dabei. Regenbogenbuntes Flimmern oben, am Boden schicke Betonoptik und mittig lange Schenkentische: Das umgestaltete Foyer zitiert die loftige Architektur des Schiffbaus – und ist so ein Leuchtsignal für die Richtung, welche die neuen Intendanten, Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg, ästhetisch einschlagen.
Im Theatersaal freilich ist alles wie gehabt: «Noch», so sagten sie dort zur Begrüssung am Donnerstag. Das mache aber nichts, im Gegenteil. «Wir lieben die Spannung zwischen Gegensätzen, besonders die zwischen Gegenwart und Tradition», sagte Stemann. Genau da hakte in ihrer Rede auch die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch ein: Der Leitungswechsel am Haus sei «immer aufregend» gewesen, aber «nicht immer so harmonisch» verlaufen wie jetzt. Man spüre den Zauber des Anfangs, die Neugier auf die neue Intendanz.
Die Leiterin der kantonalen Fachstelle Kultur, Madeleine Herzog, ging noch einen Schritt weiter. Sie skizzierte das Theater «als kollektive Kunstform und Modell für die ganze Gesellschaft», das mit der Zeit auch «auf betrieblicher Ebene Öffnung und Durchlässigkeit», etwa gegenüber der freien Szene, praktizieren solle: ein sehr heisses Eisen, dezent ins Willkommensbouquet gesteckt.
An hohen Erwartungen fehlts jedenfalls nicht. Und die Hausherren sowie viele der Mitglieder des hoch heterogenen Ensembles – die einander selbst noch beschnuppern müssen – spielten gut gelaunt mit diesen Erwartungen im selbstironischen Präsentationsdefilee «Liars!».
Am mehrtägigen Eröffnungsfestival wurden Arbeitsproben von jeden der acht neuen Hausregisseure und -regisseurinnen durchgespielt. Wir sind mitgegangen:
Ein gutes Training: «Flex»

Dass sich das neue Schauspielhaus als Plattform für ungehörte und unbequeme Stimmen versteht, demonstrierten Stemann und von Blomberg schon mit ihrer Setzung zum Auftakt am Mittwoch: Sie fand erstens im Schiffbau statt und stammte zweitens aus der Hand von Suna Gürler, die für den Schauspielhaus-Fokus auf die Jungen zuständig ist. In ihrer Laienproduktion «Flex» wehren sich sechs Basler Jugendliche gegen das Verbiegen.
Die jungen Frauen, von Gymischülerin bis Lehrtochter, rennen gegen Kylie Jenners Lip Challenge an, versuchen ihre eigene Nicht-Rasieren-Challenge, erzählen von derben Übergriffigkeiten im Ausgang und üben Selbstverteidigung; Wut statt Angst. Die temperamentvolle und ungeschliffene anderthalbstündige Emanzipierungsgymnastik riss das gesamte Publikum mit. – Ein gutes Training, gerade auch für Machos.
Bis mindestens 28. Oktober.
Einsam in der Ikea-Wohnung: «Wunschkonzert»

Wo die Mädchen brüllten, herrscht bei der Dame mittleren Alters absolute, ohrenbetäubende Stille. 80 Minuten spricht die polnische Schauspielerin Danuta Stenka kein Wort, doch die Einsamkeit hallt lautstark in der Schiffbauhalle wider. Der Münchner Franz X. Kroetz schrieb «Wunschkonzert» 1971, und die Inszenierung der neuen Hausregisseurin Yana Ross hatte 2014 Premiere. Aber wenn die akkurate Mid-Ager-Vertreterin Job-Outfit und Arbeitsmappe abgelegt hat, in ihrer peinlich sauberen 1,5-Zimmer-Wohnung zwischen den Ikea-Möbeln herumtigert und ihre Abendrituale abspult, fühlt sich das an wie Gegenwartsweh.
Die Frau um die 50 hat ihre Figur behalten, ihre Lebensform gefunden: ein selbstbestimmtes, diszipliniertes Dasein zwischen Arbeit und Daheim. Oder: die Hölle. Morgens gibts ein Ei, abends ein Brot mit exakt geschälter Tomate. Dazu flimmern über den Bildschirm Kim Kardashians Hochzeitsvorbereitungen in Paris; im Radio läuft ein herzerwärmendes Mundartprogamm. Bei Leonard Cohens «I'm Your Man» verliert die Frau kurz die Fassung. Auch das Familiensimulationsspiel am Computer, «Die Sims», tröstet nicht.
Wir treten hautnah an dieses Alleinsein heran, laufen drumherum, lugen von allen Seiten in die Wohnung hinein. Wir sehen Stenka (Jahrgang 1961) über die Schulter oder mitten ins maskenhafte Gesicht: Yana Ross setzt das Stück tödliche Einsamkeit in eine so intime Situation, dass es einem schier die Luft abschnürt. – Besonders geeignet für Menschen ab einem gewissen Alter.
Bis mindestens 11. Oktober.
Kräftig hingerotzt: Miranda Julys «Der erste fiese Typ»

Es ist sozusagen das erste konventionelle Theaterstück auf dem Spielplan der neuen Intendanz, trotz LGBTQ-Personal. Regisseur Christopher Rüping spektakelte «Der erste fiese Typ» nach dem Roman von Miranda July 2017 auf die Bühne der Münchner Kammerspiele, samt der blutigsten Geburt, die Sie je gesehen haben; und ja, pornografische SMS kommen auch vor.
Die US-Autorin hatte eine Adaption erst abgelehnt. Doch wie Maja Beckmann die unauffällige, allein lebende Mittvierzigerin Cheryl gibt, eine Angestellte mit Liebestraum, die penibel auf ihren Haushalt achtet (siehe Kroetz), und wie jetzt am Pfauen Henni Jörissen die junge Clee hinrotzt, die mit Aggression auf die Zumutungen eines genormten Lebens reagiert – das hat Power.
Clee wird in Cheryls Wohnung einquartiert: keine glückliche WG. Aber die zwei raufen sich zum Paar zusammen, die Mikrowelle dingt als Gong in den gewalttätigen Runden. Brandy Butler beherrscht dabei in umwerfenden Gesangseinlagen die Szene, intoniert etwa das dissoziierte Dasein von «Rocket Girl», während Videokünstlerin Rebecca Meining die Figuren durch die Einsamkeit des Weltraums katapultiert.
Dass Cheryl für Clees Sohn eine liebende Mutter sein wird, obwohl die Beziehung zu Clee stirbt: Das ist ein starkes Votum für die selbst gewählte Familie. – Für Leute, die sich von musikalisch-fetzigem Erzähltheater mit Trash-Kapriolen zweieinviertel Stunden tragen lassen.
Bis mindestens 3. November.
Irgendwas Hingehauchtes: «Sudden Rise»

Ganz ehrlich: Man fragt sich schon, wie das heterogene, auch ästhetische vielsprachige Ensemble wohl zum Gemeinschaftsding heranwächst. Was die neue Hauskünstlerin Wu Tsang, zusammen mit Performerin Boychild, mit Cellist Patrick Belaga, Musikerin und DJane Asma Maroof sowie Tänzer Josh Johnson in «Sudden Rise» während 50 Minuten in den abgedunkelten Pfauen haucht, scheint jedenfalls Lichtjahre von allen anderen Produktionen entfernt.
Der Stimme Wu Tsangs ist man nach wenigen Sätzen total verfallen; dem Cello auch. Aber was die Sätze sollen – frei verwobene Fragmente etwa von James Baldwin über Jimi Hendrix bis Hannah Arendt –, lässt sich nur ansatzweise ahnen.
Das Programm verweist auf eine surrealistische Methode der Textproduktion. Aber wirklich sprechend sind vor allem die geschmeidigen Spiele mit Licht und Dunkel, mit alten Projektionsleinwänden und digitalen Raumrastern: Sie kerkern die Performer ein, schlagen ihnen Gliedmasse ab, bebildern Unterdrückung, Trauma, Suche, Befreiung. «Es gibt keine nicht gewaltsame Art, jemanden anzusehen», heisst es mal. Und der Satz «Sie töten ihn jeden Tag, und die Gnade ist allgegenwärtig» wird Mantra. – Vor allem für Begnadete.
Letzte Vorstellung 2. Oktober.
8,5 Stunden Wahnsinn: «Faust I & II»

Auch in «Faust I» gehts um eine junge Frau, die von der Gesellschaft zermalmt wird. Aber eben doch viel mehr um den rastlosen Titelhelden, der alles für sich ausprobieren und wissen will, rücksichtslos, selbstverliebt, zugleich mit tiefenscharf kritischem Blick auf sich selbst und die Welt.
In Nicolas Stemanns fast achteinhalbstündigem «Faust I & II»-Wahnsinn von 2011 wird der erste Teil komplett von drei Personen (plus Musik und Video) gewuchtet, die alle grossartig sind: Patrycia Ziolkowska, Philipp Hochmair und Sebastian Rudolph. Denn Mephisto und naive Unschuld sind nur zwei Stimmen in der Dreifaltigkeit namens Mensch.
Man tauscht also Rollen, fällt auch aus der Rolle in die Gegenwart des Publikums hinein und wieder zurück in die Fiktion. Rudolph entpuppt sich dabei als phänomenaler Comedian. So wird Stemanns «Faust I» ein grandios aktueller, megalomaner Kniefall vor Goethe: hinreissend witzig und krass aufgerissen für unsere Zeit.
Dass dies nicht über sämtliche Stunden bei «Faust II» – wo weitere Schauspieler wie Karin Pfammatter und Michael Neuenschwander dazukommen – in diesem Pulsschlag weitergehen kann, ist klar. Immerhin: Gefrotzel über Postdramatik vereint sich mit der Courage zu Texttreue, zu sinnreicher Repetition und ironischer Variation. Im Einzelnen darf da gemeckert werden. Alles in allem aber: einfach toll! – Für alle.
Bis mindestens 13. Oktober. «Faust I» gibt es auch als Einzelvorstellung.
Fotos: Gina Folly/Ketty Bertossi/Zoé Aubry
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