Seit einigen Monaten bin ich nun also Theater-Intendant in Gent. Obwohl meine erste Spielzeit erst im Herbst beginnt, zeichnet sich bereits eine unerfreuliche Tendenz in meinem Arbeitsleben ab: Ständig verzichte ich auf Spasstermine an interessanten Orten, um dafür ganze Tage bei langwierigen Sitzungen zu verbringen. Gestern beispielsweise musste ich eine bereits mehrfach verschobene Reise nach Indien, wohin ich die Schauspielerin Ursina Lardi mit unserem gemeinsamen Stück «Mitleid» hatte begleiten wollen, wegen Umbesetzungsproben absagen.
Trotzdem: Es macht gewaltigen Spass, ein ganzes Theater mit drei Spielstätten zu programmieren. Wohl auf kaum eine andere Weise lernt man eine Stadt so eingehend von innen her kennen. Als ich mich im letzten Frühjahr gegen das Zürcher und für das Genter Theater entscheiden musste, fiel mir das nicht leicht – denn keine Stadt ist mir, denke ich, vertrauter als Zürich. Aber vermutlich war das auch der Grund für die Entscheidung: Dass ich Zürich zu gut kenne, dass meine Rolle in der Stadt so klar definiert ist.
Gent ist nun keineswegs das Gegenteil von Zürich. Beide haben eine lange Geschichte, beide gehören bevölkerungsmässig zum Mittelfeld der europäischen Städte. Vor allem aber verfügen sowohl Gent wie Zürich trotz ihrer relativ geringen Grösse über ein extrem breites internationales Kulturangebot. Kurzum: Gent und Zürich sind auf recht ähnliche Weise sehr modern und doch sehr traditionell, fixiert auf die eigenen Probleme und zugleich – durch ständige Migration – weltoffen.
«Die Schweiz platzt fast vor Selbstbewusstsein, Belgien hat gar keines.»
Der einzige Unterschied liegt in der Selbstwahrnehmung: Die Schweiz platzt fast vor Selbstbewusstsein, Belgien hat gar keines. Die beiden Weltkriege verwüsteten die Nation zwischen Frankreich und Deutschland bis auf die Grundfesten. Nach dem Krieg sorgte eine bis heute nicht endende Folge von Regierungs- und Wirtschaftskrisen dafür, dass es dabei blieb. Donald Trump nannte Belgien, das als wichtigste sozialpolitische Leistung der letzten zehn Jahre den europäischen Salafismus hervorgebracht hat, deshalb unfreundlicherweise ein «Höllenloch».
Der Aufklärer Lessing sagte über «die Wahrheit», dass ihr Besitz «träge und stolz» – eben etwas borniert mache. Während in der Schweiz in den letzten 150 Jahren alles richtig gelaufen ist, ist Belgien seit seiner Gründung im 19. Jahrhundert eine permanente Improvisation geblieben. Und das ist wohl der eigentliche Grund, warum ich Belgien und insbesondere Gent mag: Dass das Land sich, obwohl wunderschön und Heimat einiger der wichtigsten Künstler und Regisseure unserer Zeit, als grundsätzlich scheiternd erfährt, eben als «Höllenloch».
«Der Kummer von Belgien», lautet deshalb passenderweise das Nationalepos des Landes – das wir natürlich gleich in der ersten Spielzeit auf die Bühne bringen werden.
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Willkommen im «Höllenloch»
Zerstörung während zweier Weltkriege, Regierungskrisen ohne Ende. Belgien erfährt sich grundsätzlich als scheiternd.