«Wir haben eine Strategie: Wir machen Sie kaputt»
Monika Stocker rechnet ab: Das jüngste Buch der einstigen Stadträtin ist zwar fiktiv – es steckt aber viel Realität drin.

Mit «Anna unterwegs» bewegt sich die vor zehn Jahren zurückgetretene Sozialvorsteherin Monika Stocker (Grüne) auf einem Gebiet im Herz der Literatur. Lässt sich eine Biografie auch anders erzählen? Was wäre, wenn eine Weiche anders gestellt worden wäre? Und kann eine anders erzählte Biografie umgekehrt Wirklichkeit werden? Das geht; aber, natürlich, nur in der literarischen Fiktion. Peter Stamm spielt in seinem jüngsten Roman mit dieser Idee. Der bekannteste Schweizer Biografie-Umschreiber aber ist Max Frisch, der das Thema vielfach variiert hat.
Monika Stocker beruft sich in ihrem neuen Erzählbändchen ausdrücklich auf Frisch. Sie spielt 19-mal mit Biografie-Variationen von Anna. Das ist immer eine andere, eigenständige Frau, jede an einem Wendepunkt im Leben, der in diese oder jene Richtung führen kann. Jede beschliesst, vordergründig aus freiem Willen, ihr Leben auf den Kopf zu stellen. Die 19 Annas entscheiden sich, meistens gegen den Rat ihrer Väter, Ehemänner, Söhne, für eine radikale Abkehr vom Bisherigen. Den meisten gelingt das, sie finden im radikal Neuen neue Erfüllung. Einige aber müssen feststellen, dass sie in ihrem umgekrempelten Leben erneut auf die alten Geleise geraten und wieder aufs Ausbrennen zurollen. Das ist gut beobachtet und plausibel beschrieben, setzt bei der Leserin, beim Leser ein Nachdenken in Gang: Was wäre, wenn ich den Schalter umlegen würde?
In dieser 19-fachen Anna steckt viel Monika. Die heute 70-jährige Politikerin ist zu lange eine öffentliche Person, als dass man bei der Lektüre nicht immer wieder auf ihre politische Karriere zurückschliessen würde. Am deutlichsten wird das in der siebten Erzählung. Sie handelt fast unverhüllt von den Umständen ihres Rücktritts 2008, der in einen Zusammenhang gestellt wird mit den Vorwürfen des Sozialhilfemissbrauchs unter ihrer Aufsicht.
Schatten des Sozialhilfeskandals
«Sie hat sich zu viel Erfolg zuschulden kommen lassen», heisst es am Anfang der Erzählung, «das geht nicht.» Der Ton ist gesetzt. Dann führt der Erzählbogen zurück in den Nationalratssaal, in dem Stocker 1989 für die Armeeabschaffung gestimmt hatte, und, muss man annehmen, sich mit ihrer kompromisslosen Haltung Feinde fürs Leben schuf. «Wir haben eine klare Strategie: Wir machen Sie kaputt», bekam sie dann als Stadträtin zu hören. Und dann erlebt sie «Verrat auf allen Linien, Duckmäusertum» und «aufgestaute Wut», bei anderen Leuten, versteht sich. So also hat Monika Stocker den Sozialhilfeskandal erlebt. Er überschattete nicht nur ihren lange im Voraus geplanten Rücktritt, sondern trieb sie auch in eine gesundheitliche Krise.
Lohnt die Lektüre von Stockers Büchlein auch über diesen Einblick ins Innenleben einer Politikerin hinaus? Einerseits hat die 19-fache Variation ein und desselben Themas etwas Ermüdendes. Die Ausbrüche und Fluchten aus einem alten Leben enden zu oft und zu voraussehbar in bewegten Frauengruppen, in denen etwas zu viel gelacht und geweint wird. Die flüssig zu lesenden Erzählungen sagen anderseits Gewinnbringendes über die Entwicklung der Gesellschaft aus einer kompetenten feministischen Perspektive.
Monika Stocker: Anna unterwegs – Leben in Variationen. Mit Illustrationen von Vroni Grütter-Büchel. Edition Bücherlese, Hitzkirch. 137 S., ca. 28 Fr.
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