«Wir müssen motivierte Ärzte abends um 6 Uhr heimschicken»
Mazda Farshad wird in Zürich ärztlicher Direktor der orthopädischen Uniklinik Balgrist. Warum er eine Lockerung des Arbeitsgesetzes fordert.

Sie sind 34, leiten die WirbelsäulenChirurgie in der Uniklinik Balgrist und werden im Sommer ärztlicher Direktor. Eine aussergewöhnliche Karriere, für die Sie 80 Stunden pro Woche arbeiten. Und dann haben Sie auch noch eine kleine Tochter. Wie geht das?
Ich habe die liebste Frau auf dieser Welt. Wir kennen uns seit 15 Jahren. Ich habe immer viel gearbeitet, und sie auch. Sie ist ebenfalls habilitierte Ärztin und arbeitet als Radiologin am Unispital. Als wir unsere Tochter bekamen, hat sie reduziert. Wir funktionieren gut zusammen. Die Kinderbetreuung regeln wir familienintern. Ich habe nicht vor, bei der Arbeit kürzerzutreten.
Für Ihre Ärztekollegen erachten Sie lange Arbeitszeiten ebenfalls für sinnvoll. Die Limite von 50 Stunden, die das Arbeitsgesetz setze, sei nicht zielführend, sagten Sie kürzlich.
Wenn wir wirklich an der Spitze sein wollen, müssen wir Zeit investieren. Sonderleistungen sollten möglich sein. Heute müssen wir motivierte Assistenzärzte wegen des Arbeitsgesetzes um sechs Uhr abends heimschicken, obwohl sie gerne länger bleiben würden.
Tag und Nacht durchzuarbeiten und übermüdet zu operieren, ist aber auch nicht im Sinne des Patienten.
Das nicht. Doch wenn eine Operation etwas länger dauert, gibt es halt Überstunden. Die Sache hat zwei Seiten: Viel Erfahrung durch häufiges Operieren wirkt sich positiv aus, eine allfällige Übermüdung negativ. Wenn man zum Beispiel statt bis um sechs bis um acht arbeitet, hat das noch keine negative Auswirkung. Das Arbeitsgesetz müsste einfach etwas flexibler sein. Was nicht heisst, dass alle länger arbeiten.
Wie sollen das junge Ärztinnen mit Kindern machen? Ist im Balgrist überhaupt Teilzeitarbeit möglich?
Wir haben aktuell sieben Assistenzärztinnen, darunter auch Mütter. Das sind circa ein Viertel aller Assistenzärzte. Teilzeitarbeit ist möglich.
Sie werden der neue Balgrist-Chef und zugleich ordentlicher Professor für Orthopädie der Uni Zürich. Im Fachgebiet Orthopädie wird am meisten überbehandelt. Kreuzband und Hüfte zum Beispiel werden laut Studien zu häufig operiert. Wie begegnen Sie diesem Problem?
Im Nachdiplomstudium «Public Health» habe ich selber solche Studien gemacht. Ich untersuchte zum Beispiel, wann bei einem Kreuzbandriss eine konservative Behandlung sinnvoll ist und wann eine Operation. Etwa 80 Prozent der Kreuzbandverletzungen kann man konservativ behandeln. Der Balgrist als Uniklinik hat eine Verantwortung im fachlichen wie auch im ethischen Bereich. Wir sind streng, wenn wir eine Indikation stellen. Orthopäden, Anästhesistinnen und Radiologen treffen sich jeden Morgen um sieben im Hörsaal und besprechen die aktuellen Fälle. Diese alte Tradition im Balgrist ist sowohl Lehrinstrument als auch Qualitätskontrolle. Eine korrekte Ausbildung ist nachhaltiger als irgendwelche Listen mit Vorgaben.
Teilen Sie die Meinung, dass in der Schweiz zu viel operiert wird?
Teilweise ja. Ich selber und wir am Balgrist haben den Anspruch, die Indikation zu einer Operation vorsichtig und zur richtigen Zeit zu stellen.
Als Spitaldirektor müssen Sie allerdings auch ökonomisch denken, und eine Operation bringt Geld.
Das darf nicht im Vordergrund stehen.
Finanziell ist der Balgrist ziemlich in Bedrängnis: Ab 2018 erhält er die gleiche Fallpauschale wie ein gewöhnliches Spital, keinen universitären Sondertarif mehr. Wie wollen Sie das auffangen?
Wir gehen davon aus, dass es weiterhin spitalindividuelle Tarife geben wird.
Sie haben vorher lange überlegt, so einfach ist es wohl nicht. Könnte man auch mit Privatpatienten zusätzliches Geld gewinnen?
Das ist nicht mein Fokus. Rund 30 Prozent der operierten Balgrist-Patienten sind zusatzversichert, die Zahl ist stabil.
Der langjährige Balgrist-Chef Christian Gerber ist ein renommierter Schulterchirurg. Wird er, wenn Sie im Sommer die Spitalleitung von ihm übernehmen, weiter operieren?
Das ist noch nicht entschieden, aber durchaus wünschenswert.
Soeben haben zwei Topärzte den Balgrist verlassen: Hüftspezialist Claudio Dora ging zur Konkurrenz, der Schulthess-Klinik, Tumorchirurg Bruno Fuchs operiert jetzt im Kantonsspital Winterthur und im Unispital. Wie füllen Sie die Lücken?
Fuchs ist wissenschaftlich und klinisch voll ersetzt durch Daniel Müller, einen international ausgebildeten Tumorchirurgen. Dora hat in seiner Zeit am Balgrist mit Patrick Zingg einen ebenbürtigen Nachfolger ausgebildet.
Der Verlust der beiden dürfte dennoch schmerzen, denn sie nehmen viele Patienten mit.
In einem grossen Betrieb sind Personalabgänge zu erwarten.
Gerber gilt als machtbewusster Balgrist-Chef, der sich von anderen Spitälern abgrenzt – speziell von der Schulthess-Klinik. Werden Sie mehr auf Kooperationen setzen?
Die Schulthess-Klinik liegt zwar gleich nebenan, sie hat aber eine andere Struktur und Kultur als wir. Mit ihr stehen wir in einem bereichernden Wettbewerb. Wenn es sinnvolle Kooperationsmöglichkeiten gibt, schliesse ich diese aber nicht aus. Unser Partnerspital ist primär das Universitätsspital. Mit ihm wollen wir die Zusammenarbeit intensivieren.
Der Balgrist ist im Umbau. Wird er grösser?
Ja, wir haben unter anderem unsere Operationssäle neu gebaut und mehr Kapazität geschaffen. Zudem haben wir die Poliklinik für die ambulanten Patienten erweitert. Ebenfalls neu ist der Balgrist-Campus, in dem geforscht wird.
Welche Forschungen sind derzeit vielversprechend?
Ein wichtiges Thema ist die computergestützte personalisierte Planung und Ausführung von Operationen. Konkret: Aus Bildern eines Patienten konstruieren wir ein 3-D-Modell, zum Beispiel von einer Wirbelsäule, und koppeln es mit Bewegungsdaten. So sehen wir, wie bei diesem Patienten die Kräfte wirken, und können die Eingriffe präziser planen. Weitere Schwerpunkte liegen auf der Biomechanik, der Muskelplastizität und der Paraplegie. Die Zusammenarbeit zwischen Klinik und Forschung ist am Balgrist einzigartig. Unsere Spezialisten kommen mit Fragen aus der Praxis und versuchen sie mithilfe der rund 200 Forscher im Campus zu beantworten.
Sie sind jünger als viele Ihrer Untergebenen. Funktioniert das?
Ich habe das Glück, dass wir hier sehr gute Leute haben und dass wir uns seit langem kennen. Ich spüre grosse Unterstützung. In meinem Führungsstil werde ich adaptiv sein, oft konsultativ, teilweise delegierend. Ein Machtwort werde ich nur sprechen, wenn es um Ethik und um Grundprinzipien geht.
Welche sind?
Der Patient steht zuoberst, und alle richten sich danach – von der Empfangsdame bis zum Forscher. Wenn ich merke, dass dies nicht der Fall ist, werde ich stark eingreifen.
Noch nicht 35, sind Sie als Arzt in der Schweiz bereits zuoberst angekommen. Was ist Ihr nächstes Ziel?
Die Orthopädie massgeblich weiterzubringen.
Und dann ins Ausland gehen?
Nein, ich habe keine solchen Pläne. Meine Position ist im Moment sehr bereichernd. Hier im Balgrist kann ich echt etwas bewegen.
Zum Schluss ein Rat des Fachmanns. Rückenschmerzen gehören zu den häufigsten Leiden in unserer Gesellschaft. Was muss ich tun, damit ich nie Ihre Patientin werde?
Das ist gar nicht so einfach. Am häufigsten sind Abnützungsprobleme, und von diesen sind 70 Prozent in den Genen vorprogrammiert und nur 30 Prozent durch das eigene Verhalten beeinflusst. Gut sind eine gesunde Lebensweise, kein Übergewicht und das Vermeiden von Überbelastungen. Den Frauen empfehle ich zudem eine Osteoporose-Prophylaxe, das heisst genügend Vitamin D-Calzium und viel Bewegung.
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