«Wir sehen uns als Partner der Uhrenindustrie»
David Singleton ist bei Google für smarte Uhren verantwortlich. Im Interview mit Redaktion Tamedia erklärt er seine Strategie.
Bevor es Smartwatches gab, welche Uhren haben Sie getragen? Haben Sie überhaupt welche getragen?
Oh, ja! Ich habe fast mein ganzes Leben Uhren getragen. Meine allererste Uhr war eine Casio F-91w. Damals war die gerade bei den Jungen sehr beliebt. Sie war sehr preiswert. Aber ich liebte sie. Ich erinnere mich noch genau, wie ich die Stoppuhr und den Alarm täglich genutzt habe. Auch das Zifferblatt habe ich noch genau in Erinnerung. Mit der Zeit hatte ich dann auch andere Uhren. Aber es gab eine Zeit – bevor ich mit der Arbeit an Android Wear begann –, da trug ich keine Uhr.
Aber Ihre Arbeit und natürlich Smartwatches haben Sie wieder zum Uhrenträger gemacht?
Genau. Ein paar Google-Mitarbeiter in Zürich überlegten sich damals, was möglich wird, wenn Hardware immer kleiner wird – so klein, dass man sie bequem auf seinem Körper tragen kann. Also haben sie sich Smartphones ans Handgelenk geschnallt, um zu sehen, welche Probleme es zu lösen gilt. Damit waren sie in den Strassen von Zürich unterwegs und haben getestet, wie alltagstauglich ein Handgelenkcomputer sein könnte.
Und welche Lektionen haben sie dabei gelernt?
Erstens einmal, dass die Idee viel Potenzial hat. Ich erinnere mich noch an eine Test-App, die einem an der Tramhaltestelle automatisch die nächsten Abfahrtszeiten gezeigt hat. Das war schon mal sehr vielversprechend.
Aber es gab ja sicher auch zahlreiche Komplikationen und Hürden.
Uns wurde schnell klar, dass es gerade im Bereich der Mensch-Computer-Interaktion viele Herausforderungen gibt. Es würde schwierig, darauf Text einzutippen. Es ist unglaublich wichtig, dass die Uhr immer die Informationen anzeigt, die man auch sehen will. Aber dank den Experimenten, die das Team in Zürich durchgeführt hatte, beschlossen wir schliesslich, aus Android Wear ein Vollzeitprojekt zu machen.
War von Anfang an klar, dass aus den Erkenntnissen ein Betriebssystem wird?
Die Frage stellten wir uns auch. Wollen wir ein Produkt bauen? Oder etwas anderes? Wir kamen zum Schluss, dass bei Sachen, die man auf dem Körper trägt – wie Kleider oder eben Uhren –, Individualität eine zentrale Rolle spielt. Uns war klar, dass eine One-Size-Fits-All hier längerfristig nicht funktionieren würde. Darum entschieden wir uns für eine offene Softwareplattform mit einem Ökosystem von Partnern.
Wie viele Uhren von Partnern haben Sie eigentlich inzwischen?
Im letzten Jahr gab es 10 neue Uhren. Jetzt nach der Baselworld sind es allein in diesem Jahr schon 20. Und natürlich kommen im Verlauf des Jahres noch weitere dazu.
Zuerst haben Sie mit Techkonzernen wie Motorola, Samsung oder LG zusammengearbeitet. Nun kommen mit TAG Heuer, Movado, Fossil oder Montblanc immer mehr traditionelle Uhrenfirmen dazu. War es ein Kulturschock, mit solchen Unternehmen zusammenzuarbeiten?
Am Anfang haben sie vielleicht über Sachen geredet, die wir nicht verstanden, und umgekehrt. Aber wir haben uns sehr schnell gefunden. Die Zusammenarbeit war hervorragend. Auf beiden Seiten war die Motivation gross, etwas Neues zu lernen und zu experimentieren. Bei TAG Heuer – immerhin bedeutet TAG ja Technologie d'Avantgarde – suchen sie beispielsweise immer nach neuen Innovationen. Darum fand ich es auch so inspirierend, mit ihnen zusammenzuarbeiten.
Das war aber nicht nur mit TAG Heuer so.
Vorletzte Woche haben wir zusammen mit Montblanc eine neue Uhr lanciert. Auch dort sind sie sehr offen für Innovation. Montblanc hat ja auch schon Produkte lanciert, die beim Digitalisieren von Notizen helfen. Als es bei ihnen um die Uhr ging, überlegten sie auch erst, wer so ein potenzieller Käufer sein könnte. Die Idee war es, eine Uhr für einen viel beschäftigten Geschäftsmann zu schaffen, der viel unterwegs ist. Darauf haben sie dann auch die Apps und Zifferblätter ausgerichtet, die sie speziell für ihre Uhr entwickelt haben. Ein Detail gefällt mir besonders gut. Ein Zifferblatt zeigt einen Berg, der höher wird, je näher man mit seinen Fitnesszielen kommt. Das passt hervorragend zu Montblanc.
Interessant, dass Sie diese Spezialitäten und Eigenarten so herausheben. Bei der ersten Version von Android Wear war das praktisch nicht möglich. Gut, TAG Heuer bekam einen schwarzen statt eines weissen Hintergrunds im Menü, aber sonst bekamen alle dieselbe Software. Sind Sie da etwas offener geworden? Schliesslich sind genau solche kleine Details im Uhrengeschäft das A und O.
Unsere Philosophie mit Android Wear ist es, unseren Partnern individuelle Anpassungen zu ermöglichen. Etwa dort, wo es um die Marke oder die spezifische Kundschaft geht. Von unseren Partnern haben wir über die Zeit gelernt, wo ihnen das besonders wichtig ist, und so haben wir das auch möglich gemacht. Prinzipiell ist Android Wear sehr offen für Innovationen von Partnern. Bei Zifferblättern zum Beispiel ist jeder einzelne Pixel vom Partner gestaltet worden. Darum ist es für Uhrenhersteller auch möglich, ihre Design-Philosophie mit Android Wear 2.0 fortzuführen.
Wie gross ist Ihre Angst davor, dass die Leute schöne Uhren mit hässlichen, selbst gestalteten Zifferblättern tragen?
Wenn man sich eine schöne Uhr kauft, dann gefällt einem offensichtlich das Design. Darum werden die Leute auch Zifferblätter wählen, die zum Design der Uhr passen.
Etwas, was ich im Alltag ständig mache, ist das Wechseln zwischen verschiedenen Zifferblättern.
Mit Android Wear 2.0 haben wir das vereinfacht. Jetzt kann man einfach hin und her wischen.
So spare ich mir das Öffnen von Apps und wische zum Beispiel einfach schnell nach links, wenn ich sehen möchte, wie spät es in Amerika ist.
Bei mir ist das genauso. Hier ist zum Beispiel ein Zifferblatt, das ich mit der TAG-Heuer-Software gemacht habe. Das verwende ich tagsüber. Unten haben ich den Kalender hinzugefügt, dann sehe ich meine Schritte. Am Abend wechsle ich zu einem eleganten Zifferblatt, mit weniger Infos.
Das Wechseln von Zifferblättern wird häufig unterschätzt. Damit ist so viel möglich.
Wir haben ziemlich früh gesehen, dass unsere Nutzer und Entwickler gerne eigene Zifferblätter machen. Die Herausforderung dabei ist, dass es dann schwierig wird, die wichtigen Informationen auf dem Zifferblatt darzustellen. Man musste zum Beispiel, um den Wetterbericht zu bekommen, das Zifferblatt wählen, das die entsprechende Funktion hatte. Darum haben wir für Entwickler eine Schnittstelle entwickelt, sodass jedes Zifferblatt Daten von jeder App beziehen kann.
Wie oft verwenden Sie Apps, verglichen mit Komplikationen; also die kleinen Info-Fenster auf dem Zifferblatt?
Ich öffne Apps täglich. Aber meist weil die Komplikation etwas angezeigt hat, was ich spannend finde. Dann tippe ich drauf und komme in die App. Zum Beispiel zeigt mir die Kalender-Komplikation den nächsten Termin prominent auf dem Zifferblatt. Doch wenn ich schon den übernächsten sehen möchte, dann tippe ich drauf und komme in die App. Darum sind Komplikationen so spannend für Entwickler.
Das erste Android Wear war mir in dieser Hinsicht immer zu nervös. Mal musste man links, mal rechts wischen. Ich kam damit nie ganz zurecht. Die neue Version wirkt viel fokussierter und ruhiger. War das ein Kundenfeedback?
Ich habe die Herausforderungen bezüglich der Interaktion von Mensch mit Computer ja schon erwähnt. Ich glaube, da sind wir erst ganz am Anfang. Bei der Entwicklung von Android Wear 2.0 haben wir das Feedback sehr genau ausgewertet. Was wir immer wieder gesehen haben, ist, dass die Funktion, die es erlaubt, mit einem Wisch zur Seite mehr Details zu sehen, zwar sehr nützlich ist – aber leider nicht immer intuitiv war. Nicht immer war klar, ob man nach links oder rechts wischen muss. Darum haben wir das umgebaut und neu eine «Rauf und runter»-Navigation ins Zentrum gerückt.
Sie haben erwähnt, dass sich Smartwatches immer noch in einem sehr frühen Stadium befinden. Seit das erste iPhone herauskam, haben sich Smartphones kaum noch verändert. Sie sind immer noch ein Klotz mit einem grossen Touchscreen. Wird das bei Smartwatches ähnlich sein? Bleiben die Mini-Touchscreens am Handgelenk, oder gibt es da noch Verbesserungspotenzial?
Es gibt natürlich immer Verbesserungspotenzial (lacht) – übrigens auch bei Smartphones. Das Handgelenk ist der ideale Ort, um Informationen einzusehen. Daher gibt es gute Gründe, warum Uhren schon immer diese runde Form hatten. Ein Grund zum Beispiel ist dieser Knochen hier am Handgelenk. Der ist ein Problem. Darum machen runde Uhren so viel Sinn. So bekommt man ein Maximum an Fläche auf das Handgelenk. Ich sehe riesiges Potenzial für Technologie, die in solche Uhren eingebaut werden kann. Zum Beispiel Sensoren, die dem Gerät helfen, den Kontext zu verstehen. Aber auch in den Bereichen Gesundheit und Fitness sehen wir dank neuer Sensoren sehr viel Potenzial.
Und was ist mit Batterien?
Auch da! Insgesamt gibt es in all diesen Bereichen noch viele Entwicklungsmöglichkeiten. Meiner Ansicht nach wird sich das äussere Design jedoch kaum radikal verändern. Es hat sich einfach so gut bewährt und ist an unsere Anatomie angepasst.
Google hat das Forschungsprojekt Soli, bei dem ein Radar Fingerbewegungen erfasst. So kann man ein Gerät bedienen, ohne es zu berühren. Als ich das erstmals sah, wollte ich das in einer Uhr. Ist das möglich?
Im Technologiesektor passiert Innovation sehr schnell! Dabei ist es häufig so, dass die erste Demoversion, die einfach einmal zeigt, dass etwas technisch möglich ist, häufig nicht in ein fertiges Produkt übernommen werden kann. Batterien sind nur einer von vielen Gründen. Aber in der Zukunft werden wir sicher solche und ähnliche Technologien sehen. Darum ist es auch so wichtig, dass wir unsere Software offen programmieren, sodass unsere Partner und Entwickler auch solche Technologien verwenden können.
Uhrenhersteller können also auch so grundlegende Bedienungselemente selbst entwickeln und mit Android Wear verwenden?
Genau. Mit Android Wear 2.0 haben wir «Rotational Input» eingeführt. Wenn Sie sich die neuen LG oder Michael Kors' Uhren anschauen, kann man die Krone drehen und durch Menüs scrollen. Aber es muss nicht zwingend eine Krone sein.
Es könnte also auch eine drehbare Lünette wie bei Taucheruhren sein?
... oder so etwas, wie sie vorher erwähnt haben. Wenn wir Schnittstellen für solche Technologien einbauen, ist es wichtig, dass wir das langfristig anschauen und überlegen, was in den nächsten Jahren kommen könnte.
Wo wir von Sensoren sprechen: TAG Heuer hat bei der neuen Uhr den Pulssensor, den inzwischen fast alle haben, weggelassen, weil er zu ungenau sei. Ärzte und Forscher haben mir das auch schon gesagt. Das Handgelenk sei für solche Messungen nicht ideal. Wie sieht man das bei Google?
Ich finde es toll, wie sich TAG Heuer entschieden hat und welche Anforderungen sie an Sensoren stellen. Da die Uhr GPS und andere Bewegungssensoren hat, ist sie eine tolle Uhr zum Joggen. Aber klar, es ist heute eine der grössten technischen Herausforderungen, präzise Pulssensoren fürs Handgelenk zu bauen. Und ja, es ist möglich, aber man muss dazu Kompromisse unter anderem beim Design eingehen. Um wirklich präzis messen zu können, braucht es ein Photoplethysmogram, das braucht Platz, und zusätzlich muss man es eng auf die Haut drücken.
Sie haben vorher die neuen Uhren von LG erwähnt. Bei Android-Handys hatten Sie das Nexus-Programm. Da haben Sie zusammen mit Partnern Vorzeige-Smartphones gebaut. Die neuen LG Uhren erinnern mich vom Design stark an Google-Produkte. Wie eng arbeiten Sie in Sachen Hardware mit Ihren Uhrenpartnern zusammen?
Wenn wir neue Android-Versionen entwickeln, brauchen wir dazu auch passende Geräte. Wir können die Software nicht ohne eine Uhr sozusagen in einem Vakuum entwickeln und dann an unsere Partner schicken und ihnen viel Glück wünschen.
Das kann ja nicht funktionieren.
Darum haben wir für jedes grosse Update sogenannte Lead-Geräte. Beim ersten Android Wear waren die von LG, Motorola und Samsung. Nun haben wir für die LG Watch Style und die LG Watch Sport eng mit LG zusammengearbeitet. Darum ist es auch kein Zufall, dass sie die Ersten sind, die einen Rotational-Input-Mechanismus verwenden. Wir brauchten richtige Hardware, um das ausprobieren zu können. Aber im Kern sind es LG-Produkte.
Bei LG Watch Sport stecken die Antennen im Uhrenband. Das hat zur Folge, dass man das Band nicht mehr wechseln kann. Dabei ist das doch besonders wichtig, und Google hat sogar ein eigenes System entwickelt, um Bänder leichter wechseln zu können. Warum diese Abkehr?
Das ist gerade ein gutes Beispiel, um zu zeigen, wie viel Autonomie unsere Partner haben. Die Entscheidung, die Antennen ins Band zu stecken, kommt von LG. Sie haben sich die Vor- und Nachteile dieser Entscheidung angeschaut und sich dann für diese Variante entschieden.
Die Swatch-Gruppe hat für Ende 2018 ein eigenes Betriebssystem für smarte Uhren angekündigt. Haben Sie deswegen schlaflose Nächte?
Je mehr Firmen sich für dieses Thema interessieren, desto besser. Das bestärkt uns nur im Glauben darin, dass es hier grosses Potenzial gibt. Aber ich weiss ehrlich gesagt nicht genau, was sie planen.
Das weiss niemand.
Ich kann jedoch über unseren Ansatz sprechen. Wir sehen unsere Rolle darin, unseren Partnern zu ermöglichen, ihre Marke und ihre Tradition einzubringen. Wir können hier eine wichtige Rolle spielen, indem wir ein einheitliches Ökosystem schaffen.
Warum?
Nehmen wir als Beispiel die neue Montblanc-Uhr. Die finde ich toll, und ich bin mir sicher, die wird ein grosser Erfolg für Montblanc. In dieser Kategorie ist es ein grosser Erfolg, 100'000 Stück zu verkaufen. Wenn Sie sich nun in die Position eines App-Entwicklers wie Uber, Foursquare oder Strava versetzen und entscheiden müssen, für welches System Sie Ihre Ressourcen einsetzen, ergibt es vielleicht nicht zwingend Sinn, eine App für 100'000 Nutzerinnen und Nutzer zu entwickeln, da dies nur ein kleiner Bruchteil aller Ihrer Nutzer ist. Und da können wir mit einer einheitlichen Plattform mit einheitlichen Schnittstellen helfen. Darum freue ich mich auch so, in Basel zu sein. Wir sehen uns als Partner der Uhrenindustrie.
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