«Wir sind alle polysexuell»
Der Film «Call Me by Your Name» machte ihn bekannt. Am Dienstag stellt André Aciman seinen neuen Roman in Zürich vor. Eine Begegnung in New York.

Man kann mit André Aciman bestens über Nichtigkeiten plaudern. Darüber, wie er seinen Kaffee zubereitet zum Beispiel. Darüber, wann und wie oft er seine Katze füttert. Und über die essenzielle Frage, wo genau im Central Park man am besten spazieren geht. Aciman wohnt in einem Apartment am nördlichen Ende des Parks, dem schöneren und vor allen Dingen weniger besuchten.
In seinen Büchern geht es eher um die grossen Themen, und es kann ja auf Dauer eher anstrengend sein, fortwährend mit Journalisten über die Liebe zu reden. Spätestens seit 2017, seit der Verfilmung seines Romans «Call Me by Your Name» (Ruf mich bei deinem Namen), stapeln sich bei Aciman die Interview-Anfragen.
Gerade ist sein jüngster Roman auf Deutsch erschienen. Der Verlag hat sich für den Titel «Fünf Lieben lang» entschieden. Auf Englisch heisst das Buch «Enigma Variations», den Titel hat sich Aciman vom Orchesterwerk des britischen Komponisten Edward Elgar geliehen. Enigma bedeutet Rätsel, und in seinem neuen Buch geht es, verknappt gesagt, um das Rätsel, das die Liebe bedeutet. «Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass ich das Wort Liebe nicht benutze», sagt Aciman. Aber würde er so weit gehen, zu behaupten, dass es sich nicht um ein Buch über die Liebe handle? «Nein», sagt Aciman lächelnd, «das nun auch wieder nicht.»
Das unbekannte Begehren
Im Roman berichtet der Ich-Erzähler Paul in verschieden langen Episoden aus seinem Leben. Die erste ist dabei die eindrücklichste, sie ist gewissermassen eine abgeschlossene Novelle, die sehr an «Call Me by Your Name» erinnert. Paul reist nach Italien, um sich auf die Spuren eines Mannes zu begeben, in den er sich als Junge verliebt hatte. «Seinetwegen bin ich wiedergekommen», lautet der erste Satz, und das mag zunächst noch vieldeutig klingen, weil Paul vielleicht auch wiedergekommen ist, um sich seines Vaters zu erinnern oder seines jüngeren Ichs, aber es wird zunehmend klarer, dass es um Giovanni geht, jenen italienischen Handwerker, der in ihm ein ungekanntes Begehren auslöste.
In «Call Me by Your Name» ist es ein italienischer Teenager, der sich in einen etwas älteren Amerikaner verliebt. Im ersten Kapitel von «Fünf Lieben lang» ist es ein junger Amerikaner, der sich in einen etwas älteren Italiener verliebt. In beiden Fällen liesse sich etwas salopp sagen: Aciman kann Italien. Wie er die italienische Landschaft mit seinen Liebesgeschichten verwebt, ist meisterhaft.
Paul ist 22 Jahre alt, als er zurückreist nach San Giustiniano. Als er sich dort in Giovanni verliebte, war er zwölf. Aciman sagt: «Bevor der Junge irgendetwas über das Leben weiss, erkundet er diese Sache, die für ihn keinen Namen hat.» Dieser Punkt ist ihm wichtig: dass der junge Paul keine Ahnung hatte, was sich da in ihm regte. Dass es etwas Neues war, das er nicht benennen konnte, und dem er ausgeliefert war. «Heute wissen ja schon die Sechsjährigen alles über Sex», sagt er.
Paul hingegen bleibt ein Suchender. In den weiteren Episoden liebt er Maud und Manfred und Chloe, lernt die Eifersucht kennen und die Sehnsucht, und immer bleibt ihm das Gefühl, nicht wirklich zu finden, was er gesucht hat, was viel damit zu tun hat, dass er nicht genau weiss, was er sucht.
Besonders Marcel Proust hat es ihm angetan, mit dessen Werk sein Schreiben öfter verglichen wurde.
Aciman glaubt nicht an Hetero-, Homo- oder Bisexualität, er ist der Ansicht, dass wir alle ein «Wirrwarr von Ideen» sind, wie er einmal sagte. «Ich bin der Meinung, dass wir alle polysexuell oder polyamourös sind, oder welchen Begriff auch immer Sie verwenden wollen», sagt er. Für Aciman geht diese Vielfalt der Identitäten über die Sexualität hinaus. Er findet dafür ein etwas überraschendes Bild. «Es ist wie beim Kegeln», sagt er. Beim Kegeln? «Ja – da gibt es neun Kegel. Und wir haben neun Identitäten.» Warum es gerade neun sind, bleibt dann etwas unklar.
Aciman führt sich selbst als Beispiel für die Vielzahl der Identitäten an. Er wurde 1951 in Ägypten geboren und sprach Französisch, in seiner Familie wurde auch Griechisch, Italienisch und Arabisch gesprochen. Als Teenager kam er nach Italien, später zog die Familie nach New York. Aciman besitzt die amerikanische und die italienische Staatsbürgerschaft. Er hat Komparatistik studiert, er arbeitete in der Werbung, in der PR, als Aktienhändler, und er lehrt französische Literatur.
Besonders Marcel Proust hat es ihm angetan, mit dessen Werk sein Schreiben öfter verglichen wurde. «Das alles ist Ausdruck meiner verschiedenen Identitäten», sagt er, «ich bin viele verschiedene Personen in einer. Und das geht jedem Menschen so. Wir sind fortwährend im Fluss, es gibt keine Stabilität. Wenn die Menschen zum Psychiater gehen, versucht der mit ihnen, ihre Kern-Identität zu finden. Ich bin der Ansicht, dass es so etwas gar nicht gibt. Wir haben schlicht keine.»
Es muss Kaffee von Illy sein
Als vielsprachiger Autor hätte Aciman seine Romane auch auf Französisch oder Italienisch verfassen können. «Französisch ist meine Muttersprache, aber Englisch ist meine beste Sprache.» Deshalb schreibt er auf Englisch, hat aber eine grosse Freude daran, seine Bücher in französischer Übersetzung zu sehen.
Was nun die Nichtigkeiten angeht, über die Aciman so gern plaudert: Seinen Kaffee bereitet er in einer Bialetti-Maschine zu. Diese füllt er mit Illy-Kaffee. Es muss eine Bialetti sein, und es muss Kaffee von Illy sein. «Nur in dieser Kombination führt das zu einem ganz leicht verbrannten Geschmack, den nicht viele Menschen mögen. Ich aber schon.»
Punkt zwei: Die Katze wird in der Theorie von einer Maschine gefüttert, die zu bestimmten Zeiten eine exakt portionierte Menge Futter in einen Napf gibt. Da die Katze aber zwischendurch auch dauernd Hunger hat, steht Aciman hin und wieder auf und gibt ihr eine Extra-Portion, was dazu führt, dass seine Katze vielleicht nicht das sportlichste Tier Manhattans ist.
Und wo man im Central Park am besten spazieren geht? Natürlich ganz im Nordosten, im Conservatory Garden. Ein Garten mit verschiedenen Identitäten. Es gibt einen italienischen, einen französischen und einen englischen Teil, und man kann sich in diesem Garten aufs Schönste verlieren.
André Aciman: Fünf Lieben lang. Roman. Aus dem Englischen von Christiane Buchner. DTV, München 2019. 352 S., ca. 36 Fr.
Am 17.9. um 19.30 Uhr stellt André Aciman sein Buch im Literaturhaus Zürich vor.
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