Samstagsgespräch mit Karin Wenger«Auch ein Auftragsmörder will ein guter Menschen sein»
Wie kann jemand weiterleben, der eine Extremsituation wie eine Geiselhaft oder einen Genozid überstanden hat? Die SRF-Südostasienkorrespondentin sucht in ihren Büchern nach Antworten.

Sie porträtieren Menschen mit heftigen Schicksalen. Besonders betroffen gemacht hat mich die Geschichte von Rozina – einer Näherin aus Bangladesh, die beim Einsturz der Fabrik drei Tage lang eingeklemmt war und ihren Arm selber absägen musste, um sich zu befreien.
Ja, Rozina hat mich stark mit meinen eigenen Vorurteilen konfrontiert. Ich reiste zu ihr, hörte ihre Geschichte und glaubte keine Sekunde daran, dass sie sich je von diesem Schicksalsschlag erholen würde. Aber in den folgenden Jahren besuchte ich sie immer wieder, und mir wurde bewusst, dass ich aufpassen muss, wen ich zum Opfer mache. Die Frau hat eine unglaubliche Stärke in sich. Sie hat ihre Geschichte tatsächlich wenden können.
Inwiefern?
Als ich sie letztmals sah, war sie Herrin ihres Hauses und hatte die Kontrolle über ihr Geld und ihr Leben. Ihr Ehemann, der nach dem Unfall ihre Spendengelder geklaut hatte und abgehauen war, war zwar wieder da, weil er die Gelder verspielt hatte. Aber er hatte nichts mehr zu sagen. Sie macht heute alles, damit ihre beiden Töchter ein besseres Leben haben werden.
Eine zähe Persönlichkeit.
Viele, die ich in Asien kennen gelernt habe, sind es gewohnt, dass das Leben Kampf und Leid enthält. Sie glauben – anders als wir Schweizerinnen und Schweizer – nicht daran, dass sie ein Anrecht auf einen guten Job, eine gute Versicherung oder eine gute Wohnung haben. Ich weiss nicht, ob sie dadurch glücklicher sind. Aber sie sind sicher resilienter. Wir können viel von ihnen lernen, anstatt sie zu bemitleiden.

Was haben Sie gelernt?
Vor allem, dass das Leben eine Frage der Perspektive ist. Rozina sagt heute, sie sei froh, den Arm im grössten und schlimmsten Fabrikunfall Bangladeshs verloren zu haben und nicht in einem Autounfall. Weil sie so eine Wiedergutmachung erhält, die sie finanziell entlastet. Es ist immer auch eine Entscheidung, wie man das Leben sieht.
«Alle, die ihr Leben wieder aufgebaut haben, hatten eine Gemeinsamkeit: Sie haben Verantwortung für ihr Leben übernommen und die Opferidentität abgestreift.»
Sie haben Dutzende Überlebende während einer längeren Zeit begleitet. Wie haben sie es geschafft, nach einem derartigen Schicksalsschlag weiterzuleben?
Alle, die ihr Leben wieder aufgebaut haben, hatten eine Gemeinsamkeit: Sie haben Verantwortung für ihr Leben übernommen und die Opferidentität abgestreift. Das ging sogar so weit, dass ein Überlebender des Genozids in Kambodscha, der von der Roten Khmer gefoltert worden war, sich weigerte, ein Opfer genannt zu werden. Als ich ihn fragte, welche Erinnerung aus der Zeit am stärksten sei, antwortete er: die Blumen. Die Schönheit der Blumen in den Feldern habe ihm geholfen, weiterzuleben. Ich glaube, das ist ein bewusster Überlebensentscheid. Wenn du dich vor allem an deine Schwester erinnerst, die umgebracht worden ist, zerbrichst du daran.
Sie schreiben, dass die Betroffenen auch für andere weiterlebten.
Da kommt mir vor allem Delfin in den Sinn. Er befand sich in der philippinischen Stadt Marawi, als diese im Mai 2017 von IS-Extremisten besetzt und ein halbes Jahr kontrolliert wurde. Vier Monate lang war er eine Geisel des IS und musste schlimmste Situationen aushalten. Etwa Scheinexekutionen oder eine Flucht, bei der er fast gestorben ist. Laut Delfin waren Geiseln, die Familien, Kinder und andere geliebte Menschen im Leben hatten, viel weniger bereit, zu den IS-Schergen überzulaufen und als Kanonenfutter zu enden. Wahrscheinlich ist man schneller geneigt, sich selber aufzugeben. Aber wenn man andere liebt, entwickelt man unglaubliche Kräfte.

Delfin hat Ihnen verschiedene Versionen seiner Geschichte erzählt. Am Anfang hiess es, die Geiselhaft sei nur grausam gewesen. In späteren Gesprächen zeigte sich aber, dass er mit seiner Frau telefonieren durfte, Freundschaften mit IS–Kämpfern geschlossen und auch auf philippinische Soldaten geschossen hatte.
Das war für mich ein Schlüsselmoment in meiner Recherche. Ich bin während zwölf Jahren zu den gleichen Leuten immer wieder zurückgekehrt und habe teilweise dieselben Fragen gestellt, um zu kontrollieren, ob sie das Gleiche erzählen. Erst später, als ich die Transkripte der Gespräche las, merkte ich: Die Geschichten verändern sich. Zu Beginn war ich genervt, weil ich überzeugt war, dass sie mich angelogen hatten. Aber dann fing ich an, mich mit dem Thema Erinnerungen auseinanderzusetzen. Die Wissenschaft sagt, dass Erinnern ein Speicherprozess ist, der immer wieder neu abläuft. Wobei die Erinnerungen anders abgelegt werden können.
Was hat Delfin davon, wenn er seine Erinnerungen anpasst?
Wir wollen gute Menschen sein. Und wir legitimieren unser Handeln mit unseren Erinnerungen. Das war besonders krass zu sehen, als ich einen philippinischen Auftragsmörder interviewte. Die ganze erste Stunde des Gesprächs hat er sich verteidigt und gerechtfertigt: Er habe nur Drogendealer getötet, er säubere so die Gesellschaft. Damit wollte er seine Morde für sich und vor Gott – er war sehr katholisch – legitimieren. Am Ende sind wir alle soziale Wesen und wollen von der Herde akzeptiert werden.

Das heisst aber, dass Sie nie die Wahrheit herausgefunden haben.
Wenn ich realisiert habe, dass es zwei Versionen einer Geschichte gibt, habe ich dies so geschrieben. Aber gibt es überhaupt eine absolute Realität? Im Journalismus sprechen wir immer von Objektivität als einem der obersten Gebote. Gleichzeitig interpretieren wir die Welt stets mit der Brille unseres kulturellen und familiären Hintergrunds. Reine Objektivität gibt es nicht. Ich versuchte deshalb, die Schwierigkeiten und offenen Fragen transparent zu machen und ehrlicher zu sein, was meine eigenen Interpretationen betrifft.
Sie haben kurz den Glauben an den Journalismus verloren, als Sie das Flüchtlingslager für vertriebene Rohingya – eine muslimische Minderheit in Burma – besucht haben.
Ja, die Flüchtlinge dort waren höchst traumatisiert. Viele waren schwer verletzt und wurden nicht verarztet, Frauen mussten unter Blachen gebären. Es hatte nicht genug zu essen, nicht genug Toiletten. In den Augen der Flüchtlinge sah ich das blanke Entsetzen. Ich veröffentlichte zwei, drei Berichte, dann ging ein Boot mit Flüchtlingen im Grenzfluss unter. Viele ertranken. Als ich darüber berichten wollte, winkte der zuständige Redaktor in der Schweiz ab: «Das war genug Rohingya für diese Woche.» Diese Aussage und meine Ohnmacht in Anbetracht dieses unglaublichen Leids haben mich in eine tiefe Krise gestürzt. Weil ich gemerkt habe: All die Krisen und die Kriege, die ich erlebe, werden in der Schweiz zwischen Sport und Wetter abgehandelt.
Aber man kann nicht jeden Tag über die ganze Grausamkeit der Welt berichten. Das würde niemand aushalten.
Natürlich nicht. Aber für mich hat sich etwas geändert. Ich musste mir eingestehen: Das war nicht gesund. Seitdem habe ich angefangen, Pausen einzubauen, damit ich mehr Balance habe.
«Es ist typisch, dass sich Täter in einer Opferrolle wähnen – sie sind die Armen, die sich gegen die Bösen verteidigen müssen.»
Sie haben auch die Täter getroffen, die dieses Leid verursacht haben. Unter anderem einen radikalen buddhistischen Mönch, der zum Genozid an den Rohingya aufruft. Was haben Sie empfunden, als Sie ihn vor sich hatten?
Ich dachte im Vorfeld, er sei ein Schlächter. Als ich ihn sah, war ich erstaunt: Mir gegenüber sass ein feiner, zierlicher Mönch. Im Gespräch bemühte ich mich, ihn zu verstehen. Aber es gab immer wieder Momente, in denen ich wütend wurde. Weil er eine Mauer um sich aufgebaut hatte. Er teilt die Welt in Gut und Schlecht auf – er ist gut, die Muslime sind schlecht. Ich spürte keinen Funken Bereitschaft, die andere Seite zu verstehen.
War das auch bei anderen Tätern so?
Alle hatten eine extrem robuste Version der Realität konstruiert, um zu rechtfertigen, was sie machen. Der buddhistische Mönch hat mich mit Zahlen und Statistiken überhäuft, wie viele Christen und Buddhisten von Muslimen umgebracht werden. Das ist auch ein Schutz. Hätte er sich wirklich auf die Rohingya eingelassen und versucht, sie zu verstehen, hätte er sein ganzes Leben verändern müssen. Typisch ist übrigens auch, dass Täter sich oft in einer Opferrolle wähnen – sie sind die Armen, die sich gegen die Bösen verteidigen müssen.
Ganz im Gegensatz zu einigen Opfern, die sich mit ihren Tätern auseinandergesetzt haben. Eindrücklich zeigen Sie beispielsweise, wie der Überlebende der Roten Khmer in Kambodscha mit seinen alten Peinigern spricht.
Er sagte, wenn er zur Roten Khmer zurückkehre, dann höre er meist nur zu, stelle ab und zu eine Frage und suche Gemeinsamkeiten. So könne er eine menschliche Brücke bauen. Erst wenn eine solche Brücke entstanden ist, sei es möglich, dass die Leute sich öffnen und verändern.

Haben Sie für sich den Anspruch, solche menschlichen Brücken zu bauen?
Mein Hauptziel war stets, Verständnis zu schaffen für Welten, die weit weg wirken. Und zu zeigen, dass wir diesen Welten viel näher sind, als wir glauben. Ein T-Shirt, das wir hier kaufen, ist von einer Rozina in Bangladesh genäht worden. Ich erinnere mich, wie sie mir sagte: «Die Menschen sollen weiterhin unsere T-Shirts kaufen, denn diese Arbeit hat uns befreit – wir können unser eigenes Geld verdienen. Aber die Käuferinnen und Käufer müssen sicherstellen, dass wir einen anständigen Lohn bekommen.» Diese Erkenntnis ist aber nicht immer einfach. Denn es bedeutet, dass wir uns mit unseren T-Shirts und den Näherinnen, die sie herstellen, auseinandersetzen müssen.
Das klingt nach dem Tätermuster, das Sie vorhin beschrieben haben.
Es ist ähnlich. Man muss aktiv werden, um die Welt besser zu verstehen. Und das ist manchen zu anstrengend.
Lesungen von Karin Wenger: Zentrum Paul Klee, 12. Juni, 11 Uhr. Orell Füssli, Thun, 29. Juni, 19.15 Uhr
Jessica King ist Redaktorin im Ressort Kultur&Gesellschaft und schreibt primär über gesellschaftliche Themen.
Mehr Infos@jessking42Fehler gefunden?Jetzt melden.