Reise wie zu Darwins Zeiten
Wie Zürcher Wissenschaftler sich in den tropischen Pazifik aufmachten, um in Sedimenten von Süsswasserseen der vergangenen Inselkultur von Vanuatu auf den Grund zu gehen.

Es ist ungewöhnliches Material, das derzeit in den Kühlschränken des eidgenössischen Wasserforschungsinstituts Eawag in Dübendorf liegt. Mit drei Grossbuchstaben sind die Probesäckchen versehen, dazu das Datum und die Entnahmetiefe. Es sind schwarzbraune Ablagerungen von Seen und Mooren in Vanuatu, einer Gruppe von 83 Inseln nordöstlich von Australien. Melanesien heisst diese Region im Pazifik. Das Wort stammt aus dem Griechischen und heisst «Schwarze Inseln» – Dunkelhäutige Menschen besiedelten sie einst.
Ozeanische Regionen gab es eigentlich nicht auf der Forschungskarte der Eawag. Doch seit Nathalie Dubois in der Abteilung für Oberflächengewässer forscht, hat sich das geändert. «Es brauchte schon etwas Überzeugungsarbeit», sagt die Westschweizerin. Aber schliesslich gehe es hier auch um Süsswasserseen wie in der Schweiz, argumentiert die Forscherin. Dubois hatte Erfolg. Der Schweizerische Nationalfonds verlieh ihr eine Förderprofessur, und die ETH Zürich ernannte sie zur Assistenzprofessorin für Paläolimnologie – mit Fokus auf ursprünglich unbewohnte Inseln im fernöstlichen Pazifik.
Über den See gehen
So machte sich die Ozeanografin im letzten Sommer für vier Wochen mit einer Gruppe Doktoranden nach Vanuatu auf, um versteckte Süsswasserseen und Moore aufzusuchen und dort nach Sedimentkernen zu bohren. Das Ziel: Die Wissenschaftler wollen herausfinden, wie der Mensch nach der Besiedlung die Umwelt veränderte. «Aus den Bodenarchiven lassen sich auch vergangene Klimaveränderungen rekonstruieren und in die Zukunft projizieren», sagt Nathalie Dubois.
Ein See lüftet alle Geheimnisse. Früher oder später reagiert er, wenn sich die Umgebung verändert. Eine prompte Wirkung zeigt das Gewässer, falls es sich über Jahrtausende ungestört entwickeln konnte wie auf Vanuatu. «Da braucht es keinen grossen Eingriff des Menschen, um die Ökologie des Sees aus dem Gleichgewicht zu bringen», sagt Nathalie Dubois. Die Eawag-Wissenschaftler fanden auf verschiedenen Inseln sehr kleine und fast ausgetrocknete Seen. Manchmal waren sie fast zugewachsen, so dicht und stark, dass die Forscher auf den Wasserpflanzen laufen konnten. Unter dem Pflanzendeckel stand bis zu drei Meter tief das Wasser.
«Die Wissenschaftler entnahmen den Seeböden bis zu 1,2 Meter lange Bohrkerne. Sie reichen teilweise rund 1000 Jahre zurück.»
Bei ihren Erzählungen über die Arbeit erhält man den Eindruck von tropischer Idylle. «Das täuscht», korrigiert Nathalie Dubois. Die Forscher mussten oft improvisieren. Die Seen waren nur mit Boot und nach einem Fussmarsch durch den Dschungel erreichbar. Bei jedem See musste der Dorfchef eine Genehmigung erteilen. «Es gab weder Strom noch Telefon», erinnert sich die Forscherin. Und manchmal keine Nahrung zum Kaufen. «Fünf Kilogramm Reis wollten wir eigentlich den Einheimischen schenken, schliesslich haben wir geteilt.»
Die Wissenschaftler entnahmen den Seeböden bis zu 1,2 Meter lange Bohrkerne. «Sie reichen teilweise rund 1000 Jahre zurück», sagt Nathalie Dubois. Gegen zwanzig Kerne von zehn Seen brachten die Forscher nach Dübendorf. Sie konzentrieren sich vor allem auf die Bodenerosion, weil bereits eine kleinflächige Abholzung von Wäldern im Einzugsgebiet zu einem beschleunigten Abtrag des Bodens führen kann. Die ersten Resultate in den Sedimentproben zeigen, dass zum Beispiel nahe des Sees Nopuboy auf der grössten Insel Espiritu Santo im Verlaufe der letzten 1000 Jahre schon bald nach der Besiedlung die Bodenerosion zunahm. «Vermutlich durch Abholzung oder Viehhaltung», sagt die Wissenschaftlerin.
Einblick in die Kulturgeschichte
Die Forscher können das anhand des Anteils an organischem Kohlenstoff in den Sedimentproben rekonstruieren. Die organische Substanz entsteht im Boden vor allem durch die Zersetzung von Pflanzenresten. Je stärker die Bodenerosion, desto mehr Kohlenstoff und andere Nährstoffe gelangen mit den Bodenpartikeln in den See. Das fördert Algen- und Bakterienblüten. Der See ist ein offenes Buch über die Kulturgeschichte in der unmittelbaren Umgebung. Vor etwa 100 Jahren nahm der Gehalt an organischem Kohlenstoff deutlich ab. «Die Menschen wanderten vermutlich an die Küste, als die Missionare kamen», interpretiert Nathalie Dubois.
Die Rekonstruktion der Bodenerosion ist nur eine Methode, um in die Vergangenheit zu blicken. Pollen, Kieselalgen, Metalle, Kohle, Korngrösse, Sedimentationsrate sind weitere Instrumente einer langen Liste, die den Paläoforschern zur Verfügung stehen. Die Eawag-Wissenschaftler setzen auch auf sogenannte Biomarker. So sammelten sie auf Vanuatu Samen und Früchte verschiedener Kulturpflanzen, um Fettsäuren und andere Kohlenwasserstoffe daraus zu extrahieren, welche die Pflanzen chemisch charakterisieren. «Es ist davon auszugehen, dass die ersten Siedler Wälder nicht nur für Siedlungen rodeten, sondern auch, um Pflanzenbau zu betreiben», sagt die Ozeanografin. Nun erhoffen sich die Forscher, in den Bodenproben Biomarker zu finden, die sie Kulturpflanzen zuordnen können.
Unerforschtes Paradies
Das Ausmass des menschlichen Eingriffs in einen See und dessen Einzugsgebiet ist von Region zu Region verschieden. Es hängt von der Geologie, der Vegetation und dem Klima ab. Zudem reagiert ein Gewässer oft erst Tausende Jahre nach der Besiedlung. Viele Gewässersysteme können sich bis zu einer gewissen Grenze an Umweltveränderungen anpassen. Ausnahmen gibt es, namentlich in Europa, etwa in Deutschland, Grossbritannien oder Italien; hier reagierten untersuchte Seen rasch auf starke Eingriffe in die Landschaft, wie eine Literaturstudie eines internationalen Forscherteams im Fachmagazin «The Anthropocene Review» zeigt.
Seen und Moore sind in Europa und Amerika inzwischen gut untersucht. Weltweit gibt es aber noch einige Lücken. Zum Beispiel im pazifischen Raum. Das ist ein Grund, wieso Nathalie Dubois Melanesien als Forschungsgebiet ausgewählt hat. Dort gibt es zwar archäologische Funde, aber im Vergleich etwa zu Europa nur wenig Informationen darüber, wann die Inseln besiedelt wurden und wie sich die Umweltbedingungen veränderten.
Süsswasserseen sind selten auf kleinen ozeanischen Inseln. Das Frischwasser stammt meistens von Bächen und vom Grundwasser. Vermutlich haben aber auch noch gute Erinnerungen bei der Auswahl mitgespielt. Nathalie Dubois kennt die Pazifikregion. Für ihre Doktorarbeit hat sie in der Region der Galapagosinseln gearbeitet. Sie rekonstruierte die Klima- und Meeresbedingungen der letzten 100 000 Jahre im tropischen Pazifik. Dorthin ist bereits eine weitere Expedition noch in diesem Jahr geplant.
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