Die Unerschütterliche
Seit vielen Jahren engagiert sich die Notfall- und Gebirgsmedizinerin Monika Brodmann in Nepal. Das schwere Erdbeben 2015 hat sie hautnah miterlebt.

Als am 25. April 2015 in Nepal die Erde bebte, befand sich Monika Brodmann im Garten eines Restaurants in Kathmandu, zusammen mit einem befreundeten Sherpa und dessen Frau. Zu dritt hielten sie sich an den Händen, rührten sich jedoch nicht von der geschützten Stelle. «Ich hatte Angst, ganz klar», erzählt Monika Brodmann, «aber nicht panisch. Ich war eher erstaunt zu erkennen: Das ist ein Erdbeben.» Noch am gleichen Abend leistete die Schweizer Ärztin in einer Klinik Notfallhilfe – schiente offene Brüche, verband Weichteilverletzungen, gab die verbliebenen Medikamente ab.

Am anderen Morgen flog sie mit einem russischen Grosshelikopter ins 200 Kilometer entfernte Lukla ? dem üblichen Ausgangspunkt in Richtung Mount Everest –, um dort im Spital zu helfen; in «ihrem» Spital, bei dessen Aufbau sie zehn Jahre zuvor eine wichtige Rolle gespielt hatte. Jetzt, am Tag nach dem grossen Beben, waren dessen Mauern weitgehend zerstört. «Zum Glück war vom Personal niemand verletzt, und das Röntgengerät war wundersamerweise noch intakt.»
Monika Brodmann (53) ist eine der wenigen Frauen der Schweiz, die es an die Spitze der Gebirgsmedizin geschafft haben. Zurzeit teilt sie ihre Arbeit zwischen dem Inselspital Bern, wo sie als leitende Ärztin im Universitären Notfallzentrum arbeitet, und dem Institut für Alpine Notfallmedizin in Bozen auf, wo sie vor allem Forschung betreibt. Zuvor war sie zwölf Jahre lang bei der Rettungsflugwacht (Rega) tätig, leistete Nothilfe in den Alpen und war für die medizinische Ausbildung vieler Rettungsteams verantwortlich. Auch Gebirgsärzte hat sie jahrelang instruiert. Sie leitete Kurse mit jeweils 50 Ärzten am Steingletscher auf dem Susten oder in der Kaserne Andermatt, spielte anspruchsvolle Rettungsszenarien durch und zeigte dabei, dass sie eine Felswand problemlos hochkam.
Von eher kleinem Wuchs, war sie nicht dazu prädestiniert, sich in einer Männerbastion zu behaupten. «Also achtete ich darauf, dass ich im Bergsteigen gut war», erzählt sie. Um sich in grossen Gruppen oder im Notfallraum Gehör zu verschaffen, trainierte sie bei einer Gesangslehrerin ihre sanfte, helle Stimme.
Mit 20 den Eiger bestiegen
Unser Treffen führt uns auf den Harder, den Hausberg oberhalb von Interlaken, wo Monika Brodmann mit Mann und Hund wohnt. Es ist ein Herbsttag wie auf den Postkarten, die auf der Aussichtsterrasse verkauft werden. Touristen bestaunen das glitzernde Alpenpanorama, ein älteres Ehepaar aus den USA bittet uns, ein Foto von ihnen zu machen. «Meine Seelenlandschaft», sagt Monika Brodmann anschliessend und zeigt auf den Eiger, den sie Anfang 20 über den Mittellegigrat erstmals bestiegen habe. Seit sie denken könne, habe es sie in die Berge gezogen. Nebst den Alpen hat Monika Brodmann aber eine zweite Seelenlandschaft: das Himalajagebirge in Nepal. Um Nepal dreht sich unser Gespräch, während wir, begleitet von Balu, dem Labrador, einen gemütlichen Rundweg auf dem Harder unter die Füsse nehmen.
«Mit einer Ärzteexpedition fuhr ich erstmals zum Bergsteigen ins Ausland nach Pakistan, wo wir einen 7000er in der Nähe des K2 besteigen wollten», erzählt sie. «Damals dachte ich, solche Trecks seien nichts für mich. Ich hatte schlimmen Durchfall und war höhenkrank.» Sie wagte es dennoch wieder und nahm an Trekkings teil, die eine Freundin von ihr in Tibet und Nepal organisiert hatte. Dort habe es ihr «den Ärmel reingezogen».
Dann erhielt sie vor zwölf Jahren die Anfrage von Nicole Niquille, bei einem Spitalprojekt in Lukla mitzuhelfen. Niquille ist eine ehemalige Schweizer Bergführerin, die erste Frau hierzulande, die dieses Diplom erworben hat. Seit einem Unfall ist sie querschnittgelähmt. Monika Brodmann hatte die Westschweizerin seinerzeit während der Rehabilitation kennen gelernt, als sie in der Basler Rehab-Klinik arbeitete. Aus dieser Begegnung sei mit der Zeit eine tiefe Freundschaft entstanden. Das Spital, das Nicole Niquille und ihre Weggefährten in Lukla bauen wollten, befand sich damals im Aufbau. Monika Brodmann sollte als Kontaktperson für Schweizer Ärzte dienen, die in Luka arbeiten wollten. «Ich merkte aber bald, dass zwar gute Pläne für den Spitalbau existierten, die medizinischen Aspekte aber weniger bedacht worden waren.»
Brodmann reiste nach Nepal und schaute erst einmal dem einheimischen «Health Worker» in dessen eiskalter Praxis – es war Januar, und Lukla liegt auf 2860 Meter Höhe – ein paar Tage lang über die Schulter. Mit seiner sechsmonatigen Ausbildung hatte der Health Worker, eine Art Barfussdoktor, zwar nur beschränkte medizinische Kenntnisse, «doch mit den Menschen der Kumbhu-Region und ihren gesundheitlichen Anliegen war er sehr vertraut». Monika Brodmann erkannte rasch, dass Spezialisten hier fehl am Platz und stattdessen Generalisten gefragt waren, die ihre Grenzen kannten. Der Aufbau des kleinen Spitals mit neun Betten schritt langsam voran, und die Behandlungen waren zu Beginn fast ausschliesslich ambulant. Mehrere Male gab es medizinische Ausbildungscamps im Tal: unter anderem für Augenerkrankungen – insbesondere den grauen Star –, oder für orthopädische Probleme. Sehr rasch übernahmen nepalesische Mediziner die Verantwortung, die lokale Bevölkerung zu betreuen.
Flugretter in Nepal ausgebildet
Parallel zum Spitalaufbau begann Monika Brodmann, sich in der Flugrettung des Landes zu engagieren, bei der Alpine Rescue Foundation Zermatt von Gerold Biner und Bruno Jelk, die im Himalaja ein Flugretterteam aufgebaut hatten. Sie stellte sich als medizinische Ausbildnerin zur Verfügung, und was sie in der Schweiz jahrelang bei der Rega praktiziert hatte, führte sie nun im Himalaja fort: Sie zeigte den nepalesischen Flugrettern, wie man verunfallten Bergsteigern Erste Hilfe leistet, unterkühlte Finger und Zehen behandelt oder gebrochene Gliedmassen schient.
Im April 2015 hatte die Schweizer Ärztin wieder einen längeren Besuch in Nepal geplant. Sie wollte nepalesische Freunde besuchen, die im Basislager des Mount Everest als Guides arbeiteten. «Yes Didi, please come», hätten sie gesagt – «Didi» bedeutet «ältere Schwester». Zudem war sie in Lukla zum 10-Jahr-Jubiläum des Spitals eingeladen. «Die Feier war am 15. April, es war ein grosses, fröhliches Fest, bei dem das ganze Dorf mitmachte.» Zehn Tage später wurde Nepal von einem Erdbeben mit einer Stärke von 7,8 auf der Magnitudenskala erschüttert. «Ich war im August wieder dort, vier Monate nach dem Ereignis», erzählt Monika Brodmann, während wir auf dem Harder Richtung Bergstation der Drahtseilbahn marschieren. Sie teile den Pessimismus nicht, den viele Nepalkenner angesichts der Zerstörung verbreiteten. Es bleibe zwar noch extrem viel zu tun – aber man müsse auch anerkennen, was die Menschen in kurzer Zeit schon geschafft hätten. «Ich glaube an dieses Land», sagt Monika Brodmann schlicht. «Und ich bin stolz darauf, diese Leute zu kennen.»

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