Wo Bücher verarztet und gebügelt werden
Wenn Drucksachen Schaden genommen haben, bleibt meist nur eine Heilung: 5-wöchige Badekur im Berner Oberland.
Müsste man Kerstin Ebenaus Beruf aufgrund ihrer Werkzeuge erraten, würde man zweifellos auf etwas Medizinisches tippen. Denn auf ihrem Tisch liegen, fein säuberlich angeordnet, Skalpell, Wundhaken, Nadeln und Pinzetten, feine Zangen, eine Klemmschere, eine Spritze. Daneben liegen Handschuhe und ein knallroter Verband. Chirurgin oder vielleicht Zahnärztin? Völlig daneben würde man damit nicht liegen. Die 39-Jährige sagt: «Wir verarzten hier Bücher.»
Kerstin Ebenau ist Buchrestauratorin und stellvertretende Leiterin der Abteilung Bestandserhaltung der Zentralbibliothek Zürich. Eben rollt ein Kollege einen vollen Bücherwagen in den Raum, wo das 11-köpfige Team arbeitet. Lauter neue Patienten, sechzig bis achtzig pro Woche, werden eingeliefert. Viele haben Rückenprobleme, einige sind von Würmern durchlöchert, anderen sitzen die Blätter locker, weitere haben eine Ecke ab. Viele von ihnen sind multimorbid, haben also gleich mehrere Schadstellen oder Verletzungen.
Als Kerstin Ebenau vor fünfzehn Jahren im Centro del bel Libro in Ascona begann, sich zur Buchrestauratorin auszubilden, hörte sie oft: «Das ist doch ein aussterbender Beruf!» Bald gebe es ohnehin keine Bücher mehr. Sie weist auf all die Bücherstapel rundum, die auf eine Behandlung warten, und sagt: «Die Arbeit geht uns bestimmt nicht aus.» Und auch wenn es heisst, Papier sei geduldig, die Bücher sind es nicht immer. Denn eine ganze Generation von Schriftstücken leidet an einem schnell fortschreitenden Prozess, der das Papier brüchig und bräunlich werden lässt. Die Ursache: Holzschliffpapier.
Wenn das Papier sauer wird
Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte der deutsche Webermeister Friedrich Gottlob Keller ein neues Verfahren, um Papier aus fein geschliffenen Holzfasern herzustellen. Die bis dahin gängige Papierproduktion aus Textillumpen, genannt Hadern, konnte die rasend steigende Nachfrage nach Papier nicht mehr befriedigen. Das Holzschliffpapier ermöglichte eine kostengünstige, industrielle Papierherstellung, basierend auf einem nachwachsenden Rohstoff. Nur eben: Das Produkt kränkelt seit Jahrzehnten, es wird sauer, was holzhaltiges Papier brüchig und dunkel werden lässt.
Die Therapie lautet: Badekuren zur Entsäuerung. Alle zwei Monate schickt die Abteilung Bestandserhaltung rund dreissig Laufmeter Bücher nach Wimmis im Berner Oberland. Dort betreibt der Bund eine Anlage, in der säurehaltige Dokumente behandelt werden. Der Prozess dauert etwa fünf Wochen und stoppt den weiteren Papierabbau. Die meisten Dokumente, die zwischen 1840 und 1990 entstanden, müssen diesem Verfahren ausgesetzt werden, wenn man sie erhalten will. «Wir machen damit so lange weiter, wie wir das bezahlen können», sagt Kerstin Ebenau.
Angesichts dieser Problematik ist der Krankheitsverursacher «Benutzer» ein kleinerer Fisch. Dafür einer, der den Erfindungsgeist des ZB-Buchrestauratoren-Teams herausfordert. «Da ist jeder Patient ein Sonderfall», sagt Kerstin Ebenau. Und wenn sie nun erzählt, was ihnen täglich an schlecht behandelten Büchern unterkommt, ist neben dem Ärger auch Begeisterung zu spüren. «Es ist herausfordernd, macht aber auch Spass, jeweils auszutüfteln, wie wir einen Schaden beheben können.»
Da ist etwa das Buch, über den ein Studierender eine volle Kaffeetasse ausgeschüttet hat, was noch zu retten gewesen wäre. Nur wollte er es danach panisch auf der Herdplatte trocknen – Brandflecken an den Rändern waren die Folge. Ebenau trifft auf getrocknete Spinnen zwischen den Blättern und in letzter Zeit immer häufiger auf Markierungen mit Leuchtstiften – «vor allem bei juristischen Abhandlungen». Manche Leser hinterlassen auch Randbemerkungen. Eine Unsitte, die für die nachfolgenden Benutzer mühsam ist – es sei denn, der Vorleser sei Einstein oder Thomas Mann gewesen. Beide pflegten nämlich, am Rand der von ihnen gelesenen Bücher regelmässig ihre Kommentare zu notieren.
Auf Herz und Nieren geprüft
Schon wieder wird ein Wagen mit Büchern in den Raum gerollt – dieses Mal sind es nigelnagelneue: Jedes Buch, das die ZB neu anschafft, wird hier auf Herz und Nieren geprüft. Wie ist es gebunden? Ist der Rücken stabil genug? Braucht es eine CD-Tasche, ein Couvert für eine Karte? Zeitschriften oder Noten werden mit einem stabilen Einband versehen, billig hergestellte Taschenbücher neu gebunden. Und schliesslich werden alle Bücher mit Signaturen versehen.
Die Neuankömmlinge werden in die Warteschlange gestellt, denn alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind beschäftigt. Eine Buchbinderin faltet vorgestanzte säurefreie Kartonschachteln, in denen empfindliche Bücher, Zeitschriften oder Broschüren gelagert werden, eine andere macht Bücher für das Digitalisierungszentrum bereit, zum Scannen. Denn derzeit läuft ein grosses Digitalisierungsprojekt an der ZB, das Kerstin Ebenau vonseiten der Bestandserhaltung unter sich hat – doch dazu kommen wir in einem späteren Teil unserer Jubiläumsserie.
Nun nimmt Kerstin Ebenau ihre angefangene Arbeit wieder auf: Auf ihrem Tisch liegt ein etwa A5 grosses Buch in Pergament gefasst. Der Rücken war gebrochen – ist aber schon gerichtet. Doch ist der Einband innen gerissen. Sie nimmt ein Stück hauchdünnes Japanpapier, das sie zuvor passend eingefärbt hat, zieht darauf mit einem Stift eine Linie aus Wasser und reisst entlang dieser Spur vorsichtig einen Streifen ab. Diesen bestreicht sie mit einer dünnen Schicht des hausgemachten aus Weizenstärke und Wasser gekochten Kleisters und platziert ihn dann sorgfältig auf den Riss. Dieses langfasrige Papier gibt keine harten Kanten, ist durchscheinend und wird dadurch zu einem fast unsichtbaren Pflästerli. Mit einem Spezialkolben, der ein winziges Bügeleisen ist, trocknet und glättet sie die Fehlstelle.
Zum Schluss ein Verband drum
Bleibt die zerfetzte Buchecke: Mit einem Wundhaken fächert Ebenau die Fasern des schadhaften Buchdeckels auf. Hier kommt ein Leim aus Hausenblase zum Einsatz. Er wird aus der getrockneten Schwimmblase einer Störart hergestellt, die zu siebzig Prozent aus Kollagen besteht. Dieser Leim ist dünnflüssig, aber getrocknet sehr hart und gleichzeitig elastisch. Da er sehr teuer ist, wird er heute fast ausschliesslich bei Restaurationsarbeiten und im Instrumentenbau verwendet.
Konzentriert pinselt Kerstin Ebenau etwas Leim in die aufgefächerte Ecke, presst sie dann mit der Klemme zusammen und fixiert die Stelle. Zum Schluss nimmt sie den knallroten Verband und legt ihn satt um das kleine Buch. Als sie die Bandage mit einer Klammer festmacht, sagt sie zu ihrem Patienten: «Du musst jetzt eine Weile stillhalten.»
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