Wo das Virus den Rechtsstaat zersetzt
Ungarn, Polen, Israel und sogar Grossbritannien – immer mehr Regierungen wollen in der Corona-Krise ihre Macht ausbauen.

Viktor Orban handelt schnell. Den Notstand hat Ungarns Ministerpräsident im Kampf gegen das Coronavirus längst ausgerufen, die Grenzen sind dichtgemacht, nun nimmt er den Ausbau seiner Macht in Angriff. Ein neues Gesetz soll es ihm erlauben, zur Gefahrenabwehr – und auf womöglich unbegrenzte Dauer – per Dekret zu regieren.
Dies darf als Beispiel dafür gelten, wie ein Virus auch den Rechtsstaat zersetzen kann, und Orban ist mit seinem Vorstoss wahrlich nicht allein. Auch in Polen oder in Israel greifen die Herrschenden nach mehr Vollmachten, und selbst in Grossbritannien löst eine Notverordnung Debatten über eine mögliche Machtverschiebung zugunsten der Regierung aus. Die Krise also als Chance – zum Ausbau von Macht und Kontrolle.
«Aussergewöhnliche Massnahmen»
Der in Ungarn am Freitagabend auf der Webseite des Parlaments veröffentlichte Gesetzentwurf sieht vor, dass der am 11. März verhängte Notstand, der eigentlich alle 15 Tage durch die Abgeordneten bestätigt werden muss, künftig auch ohne Parlamentszustimmung verlängert werden kann. Eine Klausel sieht eine «erzwungene parlamentarische Pause» vor. Der Regierung würde es dann erlaubt sein, «die Anwendung bestimmter Gesetze per Dekret auszusetzen» sowie «andere aussergewöhnliche Massnahmen einzuführen», um Stabilität und Sicherheit zu gewährleisten.
Oppositionspolitiker sprechen von einem Orbanschen «Königreich» und warnen vor diktatorischen Zuständen. Schon in dieser Woche könnte der Entwurf erstmals zur Abstimmung vorgelegt werden. Orbans Regierung verfügt im Parlament über eine Zweidrittelmehrheit.
Zusätzliche Bedenken löst bei der Opposition eine im Gesetzespaket vorgesehene Änderung im Strafrecht aus, die Haftstrafen von bis zu fünf Jahren für das Verbreiten von «Falschnachrichten» über das Coronavirus vorsieht. Dies könnte genutzt werden, um die letzten freien Medien im Land unter Druck zu setzen und Kritik an Massnahmen der Regierung zu unterbinden.
«Die Seuche haben Ausländer nach Ungarn gebracht.»
Die Botschaft von einer Führung mit eiserner Hand sendet Orban damit aus, dass Ende letzter Woche 140 sogenannte Schlüsselunternehmen unter Militäraufsicht gestellt wurden. Zu den strategisch wichtigen Sparten werden die Energieversorgung, Banken, Post, Verkehrsbetriebe, der Medikamentenhandel sowie die staatliche Medienholding gezählt. Nach Art der Kriegswirtschaft soll bei Bedarf die Armee dafür sorgen, dass der Betrieb aufrechterhalten und koordiniert werden kann.
Als Begleitmusik sendet Orban beharrlich die Botschaft aus, dass die Regierung dem Virus bestens vorbereitet entgegentrete. Dabei galt Ungarns Gesundheitssystem schon in den Zeiten vor der Corona-Bedrohung als stark angeschlagen. Zur Ablenkung von solchen Missständen ist längst zur Jagd auf die vermeintlich Schuldigen an der Verbreitung des Virus geblasen worden.
Orban sieht eine «logische Verbindung» zwischen Einwanderung und Virus und erklärte: «Die Seuche haben Ausländer nach Ungarn gebracht». Zum Beleg verwies er auf zwei iranische Studenten, die als Erste im Land positiv getestet worden waren. Allerdings wurden Ungarn, die aus Italien oder anderen Risikogebieten heimkehrten, anfangs keinem Test unterzogen.
«Die Opposition spielt mit der Epidemie»
Nicht nur in Ungarn versucht sich die Führung die Epidemie zunutze zu machen: Als das Coronavirus Polen erreichte und die Regierung am 13. März den Zustand der Epidemiebedrohung ausrief, stellten alle Kandidaten den Wahlkampf für die am 10. Mai geplante Präsidentschaftswahl ein.
Diese hat herausragende Bedeutung: Der amtierende Präsident Andrezj Duda hat seit 2015 alle rechts- und verfassungswidrigen Gesetze der von seiner Partei PiS geführten Regierung abgesegnet. Würde Duda durch die führende Oppositionskandidatin besiegt, wäre es mit dem Durchregieren der PiS vorbei.
Doch verdeckt führte Präsident Duda seinen Wahlkampf fort durch Besuche bei Grenzschützern oder in Krankenhäusern, unterstützt vom parteikontrollierten Staatsfernsehen TVP. Die Opposition fordert die Verschiebung der Präsidentschaftswahl – und wird von TVP dafür attackiert mit Berichten wie: «Die Opposition spielt mit der Epidemie».
Grossbritannien will Test-Verweigerer inhaftieren
Selbst in Grossbritannien will die Regierung an diesem Montag ohne grössere Debatte eine Notverordnung im Unterhaus beschliessen lassen. Das Gesetz, mit heisser Nadel gestrickt, ist 329 Seiten lang und enthält Vorschriften zu allem, was den Behörden zur Bewältigung der Corona-Krise eingefallen ist: Menschen, die mutmasslich infiziert sind, dürfen von der Polizei festgenommen und bis zu einem Monat lang zwangsisoliert werden. Test-Verweigerer können inhaftiert, geistig Behinderte festgehalten, eine Rationierung und Verteilung von Lebensmitteln angeordnet werden.
Ärzte dürfen Totenscheine ausstellen, ohne den Verstorbenen gesehen zu haben. Kommunen bekommen mehr Kompetenzen, Häfen können geschlossen werden. Neben mehr Durchgriffsrechten für Sicherheitsorgane und Behörden enthält das Gesetz auch Vorgaben zum Schutz von Mietern, Kreditnehmern und Arbeitgebern, zudem erleichtert es die Rekrutierung von medizinischem Personal.
«Kein Parlament kann einen so wichtigen Gesetzestext in einem Tag prüfen.»
Während die Notwendigkeit des Pakets im Land und von den Parteien nicht prinzipiell infrage gestellt werden, gibt es Proteste dagegen, dass die «Coronavirus Bill» zwei Jahre lang gelten soll und noch um weitere sechs Monate verlängert werden kann. Auch viele Tories haben sich mittlerweile einem parteienübergreifenden Antrag angeschlossen und fordern, das Gesetz nach dem Inkrafttreten mindestens alle sechs Monate zur Neubewertung vorzulegen.
Labour-Parlamentarier Chris Bryant kritisierte, das Gesetz sei zwar hilfreich in der Krise, enthalte aber eine Machtverschiebung zugunsten der Regierung und drakonische Zwangsmassnahmen. «Nicht selten in der Geschichte kam es vor, dass Regierungen schnell darin waren, sich neue Rechte zu nehmen, aber langsam darin, sie zu dem Volk zurückzugeben.» Ex-Brexitminister David Davies fordert zudem eine ausführliche Debatte. Sein Argument ähnelt ironischerweise dem, was die Opposition 2019 vorbrachte, als Boris Johnson seinen Brexit-Deal in Windeseile durch das Unterhaus peitschen wollte: «Kein Parlament kann einen so wichtigen Gesetzestext in einem Tag prüfen.»
Drei Jahre Notstandsregierung in Israel?
In Israel wird sich in dieser Woche zeigen, ob das Parlament weiter am Zusammentreten durch die Likud-Partei von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu behindert wird. Israels Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit bezeichnete in einer Stellungnahme für das Oberste Gericht parlamentarische Kontrolle über die von der Regierung verhängten drastischen Massnahmen zur Corona-Bekämpfung als «vital». Parlamentspräsident Juli Edelstein hatte in der Vorwoche die Sitzung nach wenigen Minuten abgebrochen und damit verhindert, dass Ausschüsse zur parlamentarischen Kontrolle eingerichtet werden.
Likud-Politiker Edelstein will auch seine Abwahl und die Abstimmung über einen brisanten Antrag verhindern. Die Opposition, die nach der Wahl vom 2. März 62 der 120 Abgeordnete stellt, will mit ihrer Mehrheit ein Gesetz verabschieden, das einem Angeklagten verbietet, eine Regierung zu bilden. Dies ist gegen Netanyahu gerichtet, dessen Korruptionsprozess wegen der Corona-Krise auf Mitte Mai verschoben wurde.
Netanyahu hat am Samstag Oppositionsführer Benny Gantz den Vorschlag unterbreitet, für drei Jahre eine Notstandsregierung zu bilden, er wolle die ersten 18 Monate die Regierung führen. Kritiker nehmen an, dass Netanyahu danach das Präsidentenamt anpeilt, das ihm Immunität garantieren würde. Die Amtszeit von Reuven Rivlin endet in 16 Monaten.
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch