Es ist immer entweder zu viel oder zu wenig. Die Schweizer sind nie zufrieden. Und der neueste Grund zur Aufregung beruht direkt auf den letzten Einwanderungsstatistiken.
Dank dieser Einwanderer kann die Schweiz die Überalterung ihrer Bevölkerung verlangsamen, das ist eine gute Nachricht. Weniger positiv ist, dass ein erheblicher Teil der Einwanderer Asyl beantragt und es sich dabei oft um schlecht ausgebildete Personen handelt, was ihre soziale und berufliche Integration erschwert.
Im vergangenen Jahr lag die Anzahl der Einwanderer aus Europa bei 35'000 Personen. Und das ist nur die Hälfte des 2013 verzeichneten Rekords. Trotz der Angebote von hoch qualifizierten, sicheren und gut bezahlten Arbeitsplätzen zieht unser schönes Land längst nicht mehr so viele Arbeitnehmer aus Europa an. Innenpolitisch gesehen, ist das Wirtschaftswachstum seit der Krise des starken Franken nicht mehr so glänzend. Aussenpolitisch sinkt die Arbeitslosigkeit in Spanien, Portugal und Deutschland. Auch die Osteuropäer lassen die Schweiz links liegen, mit Ausnahme der Rumänen und Bulgaren, die vom Freizügigkeitsabkommen profitieren. Doch auch das wird nicht mehr von langer Dauer sein, da die Schweiz wieder Kontingente eingeführt hat. Nur bei den Franzosen und den Italienern ist der Rückgang nicht ganz so stark. Die Zahl der Grenzgänger aus diesen beiden Ländern steigt nach wie vor.
Alarmierende Aussichten
Diese Faktenlage sorgt in der Wirtschaft bereits für die Angst, der als unerschöpflich betrachtete Zustrom von hoch qualifizierten Arbeitnehmern aus Europa könnte versiegen. Gemäss einer von der UBS veröffentlichten Studie könnte den Unternehmen in zehn Jahren eine halbe Million Arbeitnehmer fehlen. Und der technologische Fortschritt wird nicht ausreichen, um den Personalmangel auszugleichen. Diese Perspektive ist vor allem deshalb so alarmierend, weil die Schweiz nur über sehr geringe Reserven an einheimischen Arbeitnehmern verfügt.
Eine Lösung wäre, den Einstieg in den Ruhestand hinauszuzögern, indem man das betreffende Alter allmählich auf 67 erhöht. Doch dafür wäre auch ein Einverständnis der Firmen notwendig. Das ist alles andere als sicher. Zur Zeit ist die Rate der Beschäftigungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer sehr gut: 20 Prozent der über 65-Jährigen befinden sich noch in einem Arbeitsverhältnis. Wenn jedoch jemand mit mehr als 55 Jahren arbeitslos wird, braucht er doppelt so lang wie andere, um wieder eine Arbeit zu finden, da man die Älteren als zu teuer und nicht unbedingt flexibel einschätzt. Um die Arbeitgeber zu ermutigen, könnte man die Sozialversicherungsbeiträge für ältere Arbeitnehmer senken oder vielleicht auch ihren Lohn. Aber auch in dieser Hinsicht ist mit Schwierigkeiten zu rechnen.
Die Elite diskutiert
Kurz gesagt: Für ein Land, das seit 50 Jahren von Einwanderungsfragen wie gelähmt ist, erscheint nun die umgekehrte Perspektive heftige Folgen zu haben. Es ist vorbei mit der Angst vor einer Überbevölkerung – stattdessen geht es jetzt um den Stress, ob genügend Spezialisten vorhanden sein werden. Und die damit verbundene Befürchtung eines Niedergangs, mit einem Mangel an Arbeitnehmern, der das Land in einen Teufelskreis des wirtschaftlichen Nullwachstums und der Überalterung zieht.
Und doch wird all das bislang nur in einem Elitekreis diskutiert. Trotz einer entspannteren Lage im Wohnungsmarkt und gesunkenen Arbeitslosenzahlen ist die Einwanderung für die Bevölkerung nach wie vor eine ihrer grössten Sorgen. Und die neuen Einstellungsvorschriften, die von den Firmen aufgestellt wurden, die ihre Jobangebote doch eigentlich in den Arbeitsämtern vorstellen sollten, vermitteln den Eindruck einer stillstehenden Schweiz, die dennoch auf das Bremspedal tritt.
Judith Mayencourt ist Schweiz-Redaktorin bei «Tribune de Genève». Aus dem Französischen übersetzt von Bettina Schneider.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch
Wo sind die geliebten Arbeitnehmer?
Die Schweiz tauscht eine Sorge gegen die andere: Angst vor dem Spezialistenmangel statt vor der Überbevölkerung.