«Zürcher lassen sich kaum mal empören»
Satiriker Martin Sonneborn über Social Media, die Zürcher Wahlen und den Versuch, mit dem «Magazin» Chaos zu stiften.
Martin Sonneborn, von 2000 bis 2005 Chefredaktor des zweitgrössten deutschen Satiremagazins «Titanic», gründete im August 2004 zusammen mit anderen «Titanic»-Redaktoren die Spasspartei Die Partei. Bei Wikipedia liest man dazu: «Die Anfangsbuchstaben des Namens Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative ergeben PARTEI, somit ist die Bezeichnung – unter der Annahme, Partei sei nicht polysem – ein unechtes rekursives Apronym.» Als Bundesvorsitzender von Die Partei wird Sonneborn, der mit einer armenischen Wirtschaftswissenschaftlerin verheiratet ist und zwei Töchter hat, intern auch «GröVaZ» (Grösster Vorsitzender aller Zeiten) genannt.
Bei der Europawahl 2014 schaffte der 52-Jährige als Die Partei-Vertreter den Einzug ins Europäische Parlament, bei der Bundestagswahl 2017 sprachen sich 450 000 Deutsche für Die Partei aus und machten sie zur grössten nicht-parlamentarischen Kraft im Land – in beiden Fällen wurde das praktisch inexistente Wahlkampfbudget durch das geschickte Nutzen von Facebook, Twitter und anderen sozialen Netzwerken kompensiert, und auch als EU-Abgeordneter setzt Sonneborn mangels Redezeit – als Fraktionsloser bekommt er jeweils nicht mehr als eine Minute – mit Vorliebe auf die sozialen Medien.
Da der TA bei einem «digitalen Spaziergang» Anfang Februar erstaunt festgestellt hat, dass die meisten Kandidatinnen und Kandidaten für die Zürcher Stadtratswahlen vom 4. März auf Social Media kaum (oder wenn doch ziemlich eigenartig) präsent sind, haben wir Sonneborn als Experten um eine Ferndiagnose und ein paar Tipps gebeten.
Wie sieht der perfekte politische Tweet aus?
Das ist der, den man niemals abschickt.
Wie meinen Sie das?
Die Chance, mit einer Twitter-Nachricht die gewollte Botschaft zu vermitteln, die gewünschte Wirkung zu erzielen, ist gering, die Gefahr, falsch verstanden zu werden, dagegen riesig. Für Leute wie uns, die unserem Regime gezielt auf die Nerven gehen müssen, ist das ein gutes weil präzises Werkzeug. Ernsthafte Politiker sollten die Finger davon lassen.
Aber die Tweets des US-Präsidenten erzielen doch enorm Wirkung.
Seine schwachsinnigen Äusserungen erzielen vor allem darum Wirkung, weil sie bedauerlicherweise immer häufiger Eingang in seriöse Medien finden. Und Zeitungen geniessen bei der Leserschaft noch immer viel Glaubwürdigkeit.
Der beste Rat bei einem Shitstorm? Klappe halten und abtauchen! Ich weiss das deshalb so genau, weil ich es selbst nicht kann.
Ist Twitter der wirkungsvollste Social-Media-Kanal für die Politik?
Nein, am wirkungsvollsten ist definitiv Facebook. Als ich eine nicht allzu charmante, an Herrn Erdogan gerichtete Ansprache auf Facebook stellte, wurde sie fünf Millionen Mal angesehen. Das ist für eine Minipartei mit einem EU-Abgeordneten ein sehr erfreulicher Wert.
Wobei Sie keine Garantie haben, dass Sie damit auch die richtigen Adressaten erreichten. Was ist zu tun, wenn man bemerkt, dass man die falschen Follower hat?
(lacht) Nichts, weil es überhaupt keine Rolle spielt. Nehmen wir die Bundeskanzlerin: Sogar mit einem simplen Analyseprogramm, das man im Internet gratis herunterladen kann, ist nachzuweisen, dass relativ viele von Frau Merkels Followern aus Rumänien stammen und dass ein sehr beachtlicher Teil gar nicht in Europa lebt. Offensichtlich haben ihre Social-Media-Manager aktiv eingekauft, allerdings auf dem falschen Markt. Aber es kümmert niemanden, entscheidend ist allein die Masse.
Masse ist das passende Stichwort: Was ist das beste Rezept, um einen Shitstorm zu überstehen?
Klappe halten und abtauchen! Ich weiss das deshalb so genau, weil ich es selbst nicht kann. Meinen Shitstorm kassierte ich, als Sigmar Gabriel auf einer Israel-Reise aus der Zeitung erfuhr, dass er von Premier Benjamin Netanyahu von einem längst vereinbarten Treffen ausgeladen worden war. Ich schrieb, dass mir Gabriel in dieser Sache zum allerersten Mal fast der sympathischere von beiden sei, und gab ihm per Twitter den Ratschlag, Netanyahu mit einem Bulldozer zu besuchen. Die Resonanz im Netz war beeindruckend, also entschuldigte ich mich vorbehaltlos – ich hätte nicht gewusst, dass Netanyahu Jude ist, weil das nicht im ersten Absatz des Wikipedia-Artikels steht. Bitte nicht zu Hause nachmachen!
Aber gut, wir reden über die Schweiz, da liegen irgendwo immer mal noch 100 000 Franken rum.
Reden wir über ein eher betuliches Thema, nämlich die Zürcher Wahlen – könnte eine kleine Lokalpartei mit gutem Social-Media-Management die Wähleranteile erheblich steigern?
Das ist unwahrscheinlich. Man kann via Facebook zwar sehr präzise Daten über noch unentschiedene Wähler erwerben, aber dafür braucht man Geld, welches Kleinparteien normalerweise nicht haben. Aber gut, wir reden über die Schweiz, da liegen irgendwo immer mal noch 100 000 Franken rum.
Ich meinte nicht mit Geld, sondern mit Originalität à la Die Partei.
Da war schon manch relevante Partei, die um Einblick in unsere moderne Turbopolitik ersuchte, jüngst kam sogar eine Anfrage von einem Thinktank, der für Bundeskanzlerin Merkel arbeitet. Aber Die Partei-Methode funktioniert bei anderen Parteien nicht.
Wieso nicht?
Weil wir seriösen Populismus betreiben. Wir transportieren unsere Botschaften auf die gleich simple, plakative, vereinfachende Art wie die rechten Populisten von AfD und Co. Das kann und darf sich die ernsthafte Politik nicht erlauben.
Aber öde Langeweile kann doch auch nicht die Lösung sein.
Was meinen Sie damit?
Das «Verrückteste», was meine Kollegen beim Durchsehen der Social-Media-Aktivitäten unserer Stadtratskandidaten entdeckten, war eine Vertreterin der Grünen, die ihren 635 Followern 24 Stunden lang Einblick in den politischen Alltag gewährte – und dabei Fotos postete, die sie beim Salatessen oder beim Bier mit Parteikollegen zeigte.
Oh, welch schöne Idee, wir werden das klauen! Es ist doch einfach wohltuend, im gestörten, wahnwitzigen Kampf um Aufmerksamkeit, der in den asozialen Netzwerken tobt, eine solche Entschleunigung erleben zu dürfen. Ob sich der Aufwand dieser Frau aber politisch auszahlt, wage ich zu bezweifeln.
Geht unserer Politik die für Social Media nötige Extrovertiertheit ab?
Das haben Sie jetzt so druckreif formuliert, dass ich nur noch ein Ja nachreichen muss. Aber das ist letztlich genau richtig so, wie es ist.
Warum?
Weil sich die Zürcher sowieso kaum mal empören lassen. Wir haben es ernsthaft versucht und sind gescheitert.
Wir dachten, es würde brennende Kioske in Zürich geben.
Erzählen Sie mehr!
Als ich bei «Titanic» war, wurden wir eingeladen, eine Ausgabe von «Das Magazin» zu gestalten, der Samstagsbeilage des «Tages-Anzeigers». Unsere erste Idee, ein schönes Hitler-Cover zu machen, erhielt eine Absage, also setzten wir auf den unseriösesten Schweizer schlechthin. Auf dem Titel stand gross: «Das gabs noch nie: SEPP BLATTER NACKT! Auf 16 Seiten zum Ausklappen».
Was natürlich ein Fake war.
Klar, aber wir dachten, es würde brennende Kioske geben. Es kam extra ein TV-Team der «Tagesthemen» nach Zürich, um das erwartete Chaos zu filmen.
Und was geschah tatsächlich?
Rund ein Dutzend Leser beschwerte sich beim Portier des «Tages-Anzeigers», sie hätten eine unvollständige «Magazin»-Ausgabe erhalten, das grosse Blatter-Poster sei gar nicht vorhanden.
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