Zürcher Mieter nutzen ihre Macht nicht
Nach einem spektakulären Gerichtsurteil warnten die Hauseigentümer, Mietverträge seien ihr Papier kaum mehr wert. Aber die angekündigte Klagewelle lässt auf sich warten.

Es gibt eine Welt, in der auf dem Zürcher Wohnungsmarkt nichts mehr ist, wie es mal war. In der seit dem 3. Juni 2016 die Machtverhältnisse auf den Kopf gestellt sind. Wo Mieter den Tarif durchgeben. Wo sie fast jeden Mietvertrag anfechten, bevor die Unterschrift auf dem Papier getrocknet ist – und belohnt werden für dieses dreiste Verhalten. Jetzt sind sie es, die den Hausbesitzern die Mietzinsen diktieren. Günstigere Mietzinsen.
Dieses Szenario hat der Hauseigentümerverband (HEV) im letzten Sommer in grellen Farben an die Wand gemalt. Auslöser war ein Bundesgerichtsurteil, von dem er auf dem falschen Fuss erwischt worden war. Hans Egloff, HEV-Präsident und SVP-Nationalrat aus Aesch hinter dem Uetliberg, warnte abwechselnd vor einer «Klagewelle» und einer «losgetretenen Lawine». Wegen des «fatalen Urteils» müssten Vermieter in Städten wie Zürich bei jedem Vertragsabschluss damit rechnen, dass der Vertrag umgehend angefochten werde. Nationalratskollege Hans-Ueli Vogt doppelte nach: «Der Mieter kann, freundlich lächelnd, den Mietvertrag unterschreiben, um anschliessend den Vermieter zu zwingen, ihm die Wohnung zu einem tieferen Mietzins zu vermieten.»
«Der Mieter kann, freundlich lächelnd, den Mietvertrag unterschreiben, um danach einen tieferen Mietzins zu erzwingen.»
Ein knappes Jahr später lässt sich festhalten: Diese Welt, in der die Mieter regieren, ist ein Paralleluniversum geblieben. Eine Erzählung aus der Abteilung: Was wäre, wenn? Denn passiert ist seit jenem vermeintlichen Schicksalstag nichts. Nach dem Urteil sind vor der Zürcher Schlichtungsbehörde nicht mehr Anfangsmietzinse angefochten worden als vorher (siehe Grafik). Offen bleibt, ob die durchschnittlich knapp 16 Fälle pro Monat heute öfter mit einem Erfolg der Mieter enden als früher, denn eine Statistik dazu fehlt. Der Schlichtungsbehörde ist aber keine signifikante Veränderung aufgefallen.
Als das Urteil publik wurde, schien die Aufregung der Hauseigentümer noch begründet, denn der Entscheid des Bundesgerichts hatte Sprengkraft. Der Präzedenzfall handelt von zwei jungen Männern, die in der Stadt Zürich einen Mietvertrag für eine 3-1/2-Zimmer-Dachgeschosswohnung unterzeichneten. Für den stolzen Preis von 3900 Franken pro Monat plus 300 Franken Nebenkosten. Doch die beiden hatten gar nie vor, tatsächlich so viel zu zahlen. Kaum waren sie eingezogen, fochten sie den Anfangsmietzins an – er sei zu hoch und daher missbräuchlich. Die Obergrenze liege für diese Wohnung bei 2200 Franken netto.
Das Urteil erzwangen Leute mit genug Geld
Das Besondere daran: Die zwei Männer befanden sich nicht etwa in einer Zwangslage. Sie arbeiteten beide bei einer Bank und verdienten zusammen 180'000 Franken netto pro Jahr. Weder ging es ihnen finanziell so schlecht, dass sie sich die hohe Miete nicht hätten leisten können, noch hatten sie lange vergeblich nach einer günstigeren Wohnung gesucht. Sie argumentierten ganz einfach, dass die Lage auf dem Zürcher Wohnungsmarkt so angespannt sei, dass sie gar keine andere Wahl gehabt hätten, als den Anfangsmietzins zu akzeptieren.
Am Obergericht waren sie mit diesem Argument noch abgeblitzt – so wie alle Mieter vor ihnen, die es in der Vergangenheit auf diese Tour probiert hatten. Aber die Richter in Lausanne stiessen dieses Urteil um. Der vom Obergericht jeweils geforderte Nachweis einer individuellen Notlage sei nicht notwendig. Es genüge eine allgemeine Wohnungsknappheit, wie sie in Zürich herrsche, um den Anfangsmietzins anzufechten. Die beiden Mieter verloren den Fall im zweiten Anlauf vor Obergericht, weil sie nicht beweisen konnten, dass die Hauseigentümerin eine zu hohe Rendite erzielt. Das ist aber nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass das Bundesgericht zum Schluss kam, in einer Situation wie in Zürich dürfe im Prinzip jeder einen Anfangsmietzins anfechten.
Egloff: 9 von 10 Mietern sind zufrieden
Wenn eine solche Tür mal aufgestossen wird, macht das im Zeitalter der sozialen Medien in der Regel die Runde. Wozu so was führen kann, zeigte im Kanton Zürich das Beispiel der Kleinkinderbetreuungsbeiträge: ein fast vergessener staatlicher Zustupf für Familien, der nach einer Gesetzesänderung plötzlich zum Renner wurde. Mit der Folge, dass manche Gemeinden finanziell in Schieflage gerieten – und man die Zulage schliesslich ganz begraben musste.
Dass ein solcher Effekt im Fall der Anfangsmietzinse ausblieb und die von Hans Egloff erwartete Klagewelle bislang auf sich warten lässt, deutet der HEV-Präsident als Zeichen, dass es den Mietern gut gehe – auch in Zürich. Gemäss Umfragen des Verbandes seien landesweit über 90 Prozent zufrieden mit dem Preis-/Leistungsverhältnis. «Warum sollte man da das Verhältnis zum Vermieter unnötig trüben?»

Trotzdem hält Egloff an einer parlamentarischen Initiative fest, die er nach dem Bundesgerichtsurteil einreichte, um das Gesetz zu verschärfen. Ihm geht es ums Prinzip: Er halte nichts davon, dass Verträge nachträglich anfechtbar sind. Das widerspreche dem Geist des Vertragswesens. Und wenn man es doch erlaube, müsse die Hürde hoch sein. Eine allgemein gehaltene, «sogenannte Wohnungsknappheit» dürfe nicht genügen, um den Mietzins anzufechten.
Walter Angst vom Zürcher Mieterverband erstaunt die Zurückhaltung der Mieter in der Stadt Zürich nicht. «Sie halten sich in der Regel an vertragliche Abmachungen», sagt er, «ausser in krass missbräuchlichen Fällen, wenn sie zum Beispiel sehen, dass der Vormieter viel weniger bezahlt hat.» Das Bundesgericht habe auch nicht eine neue Tür aufgestossen. Es habe nur die Zürcher Gerichte wieder auf den rechten Weg zurückgebracht. Diese seien zu vermieterfreundlich und hätten von den Mietern bisher zu viel verlangt, bevor diese einen Mietzins anfechten durften
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch