Zürich muss kein Backofen sein
In der Stadt gibt es brachliegende Flachdächer in der Gesamtdimension des New Yorker Central Parks. Wenn man sie begrünt, profitiert nicht nur die Natur.

Was an diesem begrünten Flachdach auf der Stadtgärtnerei Zürich grün sein soll, erschliesst sich nicht auf den ersten Blick. Während die Wiesen, welche in diesem Hitzesommer regelmässig bewässert wurden, noch etwas Grün erahnen lassen, herrscht hier farblich braun-rötlich vor. «Kein Grund zur Sorge, solche Dächer müssen nicht gewässert werden», sagt Ursula Dürst von Grün Stadt Zürich. «Das grünt im nächsten Frühling wieder. Die Pflanzen haben schon versamt.»
Dürst führt durch die Spezialausstellung Grün am Bau, in der die Möglichkeiten und Vorzüge von Dach- und Fassadenbegrünungen aufgezeigt werden. Dass das Thema in diesem Sommer derart aktuell sein wird, konnten die Projektverantwortlichen nicht vorhersehen. Der mehrfach positive Effekt von begrünten Dächern für das Stadtklima ist in Fachkreisen aber auch ohne Hitzerekorde unbestritten: Messungen zeigen bis zu zehn Grad Celsius Temperaturunterschiede an der Oberfläche von begrünten und unbegrünten Dächern. In den unter begrünten Dächern liegenden Räumen ist es derzeit um einige Grade kühler als in jenen unter unbegrünten.
So gross wie der Kreis 6
Dazu kommt eine positive Wirkung auf die Stickstoff- und Feinstaubkonzentration in der Luft und – sollte es endlich wieder einmal ausgiebig regnen – können begrünte Dächer das Entwässerungssystem und die Kläranlagen entlasten, da sie je nach Aufbau und Regendauer 60 bis 99 Prozent der Niederschlagsmenge zurückhalten und speichern. Nach und nach verdunstet das Wasser, was wiederum die Umgebung kühlt. Begrünte Flachdächer sind im Übrigen langlebiger als unbegrünte, weil sie weniger grosse Temperaturschwankungen aushalten müssen. Diese betragen bei Kiesdächern zwischen minus 20 und plus 80 Grad.
Dass es sich bei Dachbegrünungen nicht um einen Tropfen auf einen heissen Stein handelt, zeigen folgende Zahlen: In der Stadt Zürich umfassen alle Flachdächer zusammen eine Fläche von 511 Hektaren. Das entspricht der Fläche des Stadtkreises 6 oder aller städtischen Naturschutzgebiete. Davon ist jedoch nur rund ein Drittel begrünt: 189 Hektaren. Rund 320 Hektaren liegen brach. So gross etwa ist der Central Park, der oft als grüne Lunge von New York bezeichnet wird.
Wird verdichtet gebaut, steigt die Bedeutung begrünter Dächer.
Das Potenzial ist also beträchtlich: Kommt dazu, dass ein Grossteil dieser begrünten Flachdächer noch aufgewertet werden könnte. Die Stadt Zürich schreibt zwar bereits seit 1991 vor, dass Flachdächer, die nicht als Terrassen benutzt werden, zu begrünen sind. Dies gilt für Neu- und Umbauten. Vor drei Jahren wurde diese Vorschrift aber ergänzt: Die Begrünung muss «ökologisch wertvoll» sein, soweit dies technisch und betrieblich möglich und wirtschaftlich tragbar ist. Dabei geht es nicht nur um eine positive Wirkung auf das Stadtklima, sondern auch um die Artenvielfalt. Die Flachdächer haben nämlich auch das Zeug zum Naturschutzgebiet.
Orchideen auf dem Dach
Dazu eine Rückblende: Als 1914 am Stadtrand in Wollishofen das Seewasserwerk Moos gebaut wurde, haben die Bauherren veranlasst, dass die Flachdächer der Filteranlagen mit Grasziegeln aus der Umgebung belegt werden. Man versprach sich davon unter anderem eine gewisse Wärmedämmung. So geschah es, und weiter interessierte sich kaum jemand dafür, was dort oben vor sich ging. Bis im Frühling 2000 der Zürcher Botanik-Professor Elias Landolt auf eines der Dächer stieg.
Landolt entdeckte in dem mittlerweile dicht überbauten Wollishofen ein unverhofftes Paradies: Auf der etwa drei Hektaren grossen Fläche war eine Magerwiese mit 175 Pflanzenarten entstanden, darunter 9 Orchideen. Allein von der Kleinen Orchis zählte er 6000 Pflanzen. Daneben dokumentierte er zahlreiche weitere in unserer Region nicht oder kaum mehr vorhandene und landesweit seltene Arten. Die Dachgärten stehen heute unter Schutz und müssen bei der anstehenden Sanierung abgetragen und danach wieder angebracht werden.
Eine Vielfalt von Pflanzen zieht eine Vielfalt von Insekten an. Biologen fanden zwanzig Spinnenarten auf dem Dach des Seewasserwerks. Und Insekten und Samen sind wiederum ein gut gedeckter Tisch für Vögel. Die Dachwiesen des Werkes Moos ziehen heute Botaniker und Naturschützer von weit her an. Einzigartig ist, dass es sich bei diesem Glücksfall um einen Zufall handelt, hatte man doch damals einfach Humus aus der Umgebung aufgetragen. So artenreich waren eben Anfang des 20. Jahrhunderts noch die normalen Wiesen im Mittelland. Doch hat sich unterdessen auch erwiesen, dass man mit gezielten Massnahmen Flachdächer zu Refugien seltener Arten machen kann: So berichtete etwa der WWF vor einiger Zeit, dass auf dem begrünten Dach der Migros-Betriebszentrale in Gossau SG gelegentlich gar Kiebitze gesichtet werden.
Totholz und Bienenhotel
Auf dem eingangs erwähnten Dach der Stadtgärtnerei wird exemplarisch aufgezeigt, wie ein Flachdach zu einem Biotop für viele verschiedene Pflanzen und Insekten werden kann. Abhängig von der Dicke der Humus- beziehungsweise Substratschicht fühlen sich dort andere Pflanzen wohl. Die Stadt Zürich schreibt eine mindestens zehn Zentimeter dicke Schicht vor. Auch dürfen nur Samen von einheimischen Pflanzen ausgesät werden. Idealerweise stammen die Samen sogar aus der näheren Umgebung.
Auch sollten Kleinstrukturen geschaffen werden: Auf einer Seite liegt ein Asthaufen, dort ein Wurzelstock, es gibt kleinere Tümpel, Sandflächen und dickeres Totholz. Das sind Lebensräume für Käfer, Schmetterlinge, Wildbienen, Heuschrecken oder Spinnen. Es gibt einen Humushügel für tiefer wurzelnde Pflanzen und einen Steinhaufen. Dabei müsse natürlich auf die Tragfähigkeit des Daches geachtet werden, sagt Ursula Dürst, Projektleiterin dieser Ausstellung. Schwere Aufbauten könnten aber etwa dort erfolgen, wo tragende Wände das Dach stützten.
Winterthur weniger streng
Die intensive Begrünung einzelner Dächer ist zwar ökologisch wertvoll, doch bilden sie Naturinseln, die für weniger mobile Arten unerreichbar bleiben. Je näher aber die nächste Insel liegt, desto mehr Pflanzen und Tiere können sie nutzen. Es entstehen Trittbrett-Biotope, welche zum Beispiel dem Kleine Widderchen – ein kleiner Schmetterling – als Lebensraum dienen können.
Je verdichteter gebaut wird, desto grösser ist die Bedeutung solch begrünter Flachdächer. Sie bieten die Möglichkeit, den durch Strassen und Gebäude versiegelten Raum etwas auszugleichen. Die verlorenen Grünflächen werden wenigstens teilweise kompensiert. Dabei ist nicht nur die Stadt Zürich in der Pflicht. Doch ist sie klare Vorreiterin. So hat keine der fünf grössten Städte im Kanton eine umfassende Regelung zur Flachdachbegrünung. In der Bau- und Zonenordnung (BZO) der Stadt Winterthur heisst es nur: Nicht genutzte Flachdächer sind in der Regel fachgerecht zu begrünen. Martin Rapold von Stadtgrün hält allerdings fest, dass man in der Regel eine Begrünung verlange. Auch werde die Stadt bei einer Überarbeitung der BZO eine Präzisierung vorschlagen.
Uster formuliert den entsprechenden Passus in seiner Bauordnung unbestimmter: Flachdächer über fünfzig Quadratmeter sind «so zu gestalten, dass sie begrünt werden können», heisst es dort. Dübendorf kennt gar keine Vorschrift, doch steht eine Revision der Bau- und Zonenordnung an. Da werde das bestimmt zum Thema, sagte Marco Forster von der Stadtplanung. In der Stadt Dietikon sind Flachdächer zu begrünen, «falls dies keine übermässige Nutzungseinschränkung verursacht».
Ausstellung Grün am Bau bis 31. März 2019 in der Stadtgärtnerei, täglich von 9 bis 17.30 Uhr und in der Sukkulentensammlung, täglich geöffnet von 9 bis 16.30 Uhr. Die Dachgärten des Seewasserwerks sind mit Führungen zu besuchen.
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