Zürich reduziert Druck auf Sozialhilfeempfänger
Wer in Zürich in die Sozialhilfe abdriftet, bleibt länger hängen als früher. Nun braucht es ein Umdenken, fordert Stadtrat Raphael Golta.

Kennzahlen haben ihre Tücken: Sie verschleiern Einzelfälle und Veränderungen. So zum Beispiel auch die Sozialhilfequote der Stadt Zürich. Diese blieb in den vergangenen Jahren weitgehend stabil. Sie stieg letztes Jahr lediglich von 5,1 auf 5,2 Prozent an, wie Sozialvorsteher Raphael Golta (SP) an einer Medienkonferenz heute Freitag mitteilte. Insgesamt hat sich aber die Zahl der Sozialhilfeempfänger von 19'992 auf 20'799 erhöht – ein Plus von 4 Prozent. Die Quote bleibt nur deshalb seit Jahren stabil, weil die Zahl der Bewohner in der Stadt parallel steigt.
Während immer mehr Menschen von der Sozialhilfe abhängig sind, bleiben sie auch immer länger davon abhängig. Diese Entwicklung bereitet Raphael Golta und Mirjam Schlup, Direktorin der Sozialen Dienste, Sorge. «Wir beobachten, dass die mittlere Bezugsdauer ansteigt. 2011 waren es noch 27 Monate, 2016 bereits etwas mehr 30», sagt Schlup. Es sei zwar immer noch so, dass die Hälfte aller neuen Sozialhilfebezüger pro Jahr nach rund neun Monaten sie wieder verlassen könne, aber auch hier zeige die Tendenz leicht nach oben.
Schlecht Ausgebildete im Fokus
Golta forciert jetzt ein Umdenken. «Früher folgten wir dem Grundsatz: Alle, die wollen, finden auch wieder einen Beruf.» Heute müssten wir aber akzeptieren, dass nicht alle Menschen Platz im Arbeitsmarkt hätten. Und bei ebendiesen Menschen, die von der Sozialhilfe abhängig sind, müsse man den Druck reduzieren, ohne sie ganz aufzugeben, sagt Golta. Das heisst, es sollen beispielsweise Sanktionsmassnahmen für bestimmte Gruppen überprüft werden. «Zugespitzt formuliert: Es geht nicht mehr darum, jeden in den Arbeitsmarkt prügeln zu wollen.»

Besonders Ungelernte, Geringqualifizierte und auch über 50-Jährige hätten es auf dem anspruchsvollen Arbeitsmarkt besonders schwierig, so Golta. Auch Risikogruppen müssten früher erkannt werden. Dazu gehörten etwa jene Menschen, die eine Stelle haben, aber keine Ausbildung. Bei ihnen müsse man an der Qualifikation arbeiten, bevor sie auf Sozialhilfe angewiesen seien. Weiter sollen auch neue Mittel und Wege für Ausbildungen geschaffen werden.
Neuer Gesetzesentwurf kommt
Golta stützt seine Entscheide auf eine Studie, die sein Departement bei der Universität Basel in Auftrag gegeben und heute Freitag vorgestellt hat. Diese hat den Schweizer Arbeitsmarkt analysiert. Sie zeigt, dass die Arbeitslosenquote bei den Ungelernten seit den Siebzigerjahren deutlich angestiegen ist – und zwar deutlich stärker als bei den höher Ausgebildeten.
Während dieser Zeit sei auch die Zahl der Ungelernten in der Bevölkerung gesunken, sagt Studienautor George Sheldon, aber noch schneller reduzierte sich die Nachfrage nach gering qualifizierten Arbeitskräften. «Während die Industrialisierung Qualifikationen überflüssig gemacht hat, verlangt der heutige technische Wandel deutlich höher qualifizierte Arbeitnehmer», sagt der Arbeitsökonom. Zudem wurden viele Routinearbeiten in Billiglohnländer ausgelagert. Die Folge: «Die Arbeitslosigkeit bei Ungelernten nimmt kontinuierlich zu.» Das Problem sei, dass den meisten Betroffenen bereits eine Grundbildung fehle, auf der man aufbauen könnte. So kann die Ursache, die fehlenden Qualifikationen, nicht einfach beseitigt werden.
Die Resultate der Schweizer Studie seien nicht eins zu eins, aber in groben Zügen für Zürich interpretierbar, sagt Sheldon. Wieso keine Zürcher Studie in Auftrag gegeben wurde, begründet das Sozialdepartement damit, dass der Arbeitsmarkt nicht an der Stadtgrenze aufhöre. Man habe sich einen grösseren Überblick verschaffen wollen. Das Sozialdepartement arbeitet nun basierend auf den Erkenntnissen Massnahmen aus. Noch dieses Jahr würden erste Resultate vorliegen, verspricht Golta. Ebenfalls noch in diesem Jahr soll dem Gemeinderat ein Gesetzesentwurf unterbreitet werden, damit die Sozialdetektive wieder verdeckt observieren können. Zürich hat im März die Arbeit der Sozialdetektive gestoppt. Der Grund: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte, dass für die Observationen und den damit verbundenen Eingriff in die Privatsphäre die gesetzliche Grundlage fehlte.
Zum Schluss einer zahlenlastigen Medienkonferenz erinnerte Golta daran, dass hinter all den Quoten Einzelfälle stünden: «Der 49-jährige Portugiese zum Beispiel, der sein Leben lang auf dem Bau gearbeitet hat und nun wegen Beschwerden dies nicht mehr tun kann.» Oder die 38-jährige Studienabbrecherin, die lange mit diversen Jobs durchgekommen sei und plötzlich ohne Ausbildung und Beruf dastehe. Die neuen Massnahmen müssten solchen Einzelfällen gerecht werden.
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