Ein Brett hinterm Kopf
Die Fotografen Joan Minder und Flavio Leone kleben Porträts an eine Holzwand und bringen so ein bisschen Stadtleben ins Niemandsland beim HB.
Die andere Wand wäre die bessere gewesen. Das wissen auch Joan Minder und Flavio Leone. Doch die gab es nicht. Ihr Projekt wollten die beiden Fotografen deshalb nicht begraben. Ihre (ursprüngliche) Idee: eine kleine Galerie an der Bretterwand, welche die Baustelle der letzten Etappe der Europaallee von der Langstrassenunterführung trennt. Bilder aus dem Quartier für das Quartier.
Nun haben ihnen die SBB eine andere Wand überlassen. Einige Hundert Meter stadteinwärts, beim Europaplatz hinter der Sihlpost. Statt einer langen Wand mit einem leichten Knick sind es nun rund 20 Meter um eine Ecke herum. Gestrichenes Kronospan, schmutzig weiss, etwa so wie die Tapete in der Wohnung eines Kettenrauchers.
An dieser Wand hängen seit Anfang Woche vielleicht 50 Bilder. Die kleinsten A4, die grössten mehr als einen Meter hoch. Die meisten sind schwarzweiss, einige wenige farbig, alle aufgekleistert, die Struktur der Holzplatten drückt durch. Es ist ein Ausschnitt aus der Sammlung von Handybildern unter dem Hashtag zürilütsinddochspannend. Vor einem Jahr haben Leone und Minder damit begonnen, die unbemerkt gemachten Aufnahmen ungefragt unter diesem Label auf Instagram zu veröffentlichen, um dem Klischee des cleanen, langweiligen Zürchers entgegenzuwirken. Irgendwann kam die Idee einer Open-Air-Galerie auf. Viele der Bilder sind im Langstrassenquartier entstanden – jenem Quartier in Zürich, in dem das Leben zu einem guten Teil auf der Strasse stattfindet.
Zentraler, aber toter Ort
Das ist das Interessante an der neuen, schlechteren Wand bei der Europaallee: der Kontrast von steriler Umgebung, die einzig durch die ganze Bauerei etwas staubig und lärmig ist, und den Bildern aus den lebendigen Quartieren rundherum. Von Nutten und Freiern, von Schulkindern und alten Säufern, von Schlafenden und Abwesenden, Businessleuten und Bettlern, von halbstarken Secondos und muskulösen Primeros: Bauarbeiter, die gerade eifrig am Upgrade des Langstrassenquartiers arbeiten. Es sind ruhige Einblicke ins Stadtleben auf den Strassen, vor Beizen, im Tram, im Bus.
Die Galerie selber soll ebenfalls leben. So zumindest die Vorstellung von Joan Minder und Flavio Leone. Reisst jemand sein Bild (oder das eines andern) für zu Hause (oder aus Wut) ab, wird es durch ein anderes ersetzt. Wird eines übermalt oder übersprayt, ebenso.
Das ist vielleicht das grösste Problem des Galeriestandorts neben provisorisch aufgestellten Billettautomaten und Bauinstallationen: dass er vom hastigen Volk der Pendlerinnen und Pendler kaum beachtet wird. Dass Leute, die dort vorbeihasten, zu einem guten Teil eben doch dem Klischee entsprechen. Dass kaum jemand vorbeikommt, der die Wand zum Leben erwecken will. Weil er keinen breiten Filzstift dabeihat. Oder weil das Interesse fehlt.
Das Maximum an «Störung», bis jetzt: Vor den Bildern stehen einige Velos.
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