Zur Hölle mit der Vereinfachung
Andri und Gieri Hinnen rufen zu einem besseren Umgang mit der Komplexität auf. Ihr Ratgeber ist auch eine Kampfansage an den Populismus.
Die Vereinfachung gilt vielen als Rettungsanker. Als Gegenmittel in einer Welt des Informations-Tsunamis, in der altbekannte Werte scheinbar im Chaos versinken, in der das Postfaktische regiert – vereinfacht gesagt.
Populisten sind ein Garant für simple Antworten, zugespitzte Meinungen und eindeutige Schuldzuweisungen. Den Zürchern Andri und Gieri Hinnen geht das zu weit. «Statt komplexe Zusammenhänge aufzuzeigen, werden diese oft bis zur Unkenntlichkeit vereinfacht oder von Anfang an zu Fake-News erklärt», sagt Andri, der jüngere der beiden Brüder. Das Resultat seien «ignorierte Forschungsergebnisse, politische Fehlentscheidungen, gescheiterte Unternehmensstrategien». Die Brüder verfassten deshalb eine bissig-witzige Liebeserklärung an die Komplexität: «Reframe It! 42 Werkzeuge und ein Modell, mit denen Sie Komplexität meistern». Das Buch ist ein Ratgeber gegen den Trend. Wer die Regale der Bücherläden durchforstet, findet eher Titel wie «Simplify Your Life. Einfacher und glücklicher Leben» oder «36 Formeln, die Ihr Leben vereinfachen». Die Autoren vollziehen den Umkehrschluss: Wer Komplexität meistert, der macht sich mächtig.
Komplexität ist eine Knetmasse
Die Illustrationen erweitern das Thema auf verspielte Art. Andri Hinnen vergleicht Komplexität mit der Knetmasse Play-Doh: «Besonders lustig wird es, wenn wir ganz viele verschiedene Backformen und Werkzeuge dafür benutzen können.» Die Fallbeispiele im Buch erinnern an eine etwas groteskere Variante von Martin Suters «Business Class»:
«Das Vorstandsmeeting der Gute Wurst AG zum Thema ‹Skandinavien-Expansion› droht aus dem Ruder zu laufen. Verantwortlich ist Betriebschef Rudolph: Mittels wilder Eroberermethoden und pathetischer Kampagnenvorschläge versucht er seine Kollegen zu überzeugen, dass es sich um eine ‹todsichere Sache› handelt. ‹Schaut euch mal diese halb nackte Wikingerin auf dem brennenden Drachen an! Die Nordländer werden uns aus der Hand fressen.›»
Die Erkenntnisse, die in den Ratgeber einflossen, sind bei den Brüdern über Jahre gewachsen. Nach der Kantonsschule in Wetzikon ZH zog es sie an die HSG St. Gallen. Andri Hinnen studierte zunächst aus Verlegenheit an der renommierten Wirtschaftshochschule beziehungsweise «aus Angst, sich dem realen Leben zu stellen», wie er sagt. Schnell habe er jedoch die gelernten Inhalte wie Organisationspsychologie schätzen gelernt. «Ich merkte, dass komplexes Wissen Spass machen kann.» Immer dann, wenn er begonnen hat, mit dem Wissen «zu spielen»: ausgeklügelte Mindmaps, Essays, angereichert mit ausgefallenen, fachfremden Metaphern, oder Präsentationen, die er versuchte, als Gesamtkunstwerke zu inszenieren. Inzwischen hat Andri Hinnen seine Faszination zum Beruf gemacht. Mit seiner Firma Zense will er Unternehmen helfen, komplexe Inhalte wie deren Strategien besser zu erfassen und zu kommunizieren – mit Wimmelbildern, animierten Filmen und Geschichten aller Art.
«Unsere Sehnsucht, Dinge einfacher und lösbar zu machen, kann im Verderben enden.»
Es ist dieser lustvolle Umgang mit Komplexität, der den Ratgeber auszeichnet, ihn fassbar macht und davor bewahrt, in die trockene Sphäre theoretischer Anwendungstools abzudriften. Gerichtet ist das Buch an alle Geschichtenerzähler, die ihre Botschaften an die Frau oder den Mann bringen müssen: Manager, Berater, Werber, Wissenschaftler, Politiker, Journalisten.
«Jeden Inhalt kann man zum Leben erwecken, sei er noch so trocken», sagt Gieri Hinnen. Die Unternehmensstrategie einer Versicherung oder eine Abstimmungsvorlage zum Finanzhaushalt seien kommunikative Knacknüsse, denen man mit Wohlwollen begegnen müsse. Stattdessen würden viele Inhalte, die als langweilig empfunden werden, so knapp wie möglich kommuniziert. «Das macht das Ganze ja nur noch schlimmer.»Damit ist der Ratgeber auch eine Kampfansage an die «Terrible Simplificateurs» unserer Zeit. An die Neopopulisten, die ihre wachsende Anhängerschaft gemäss Andri Hinnen mit Vereinfachung durch die stürmischen Zeiten lenken. So würden ständig einfache, auf den ersten Blick vielleicht elegant wirkende Lösungen für schwer zu erfassende Probleme vorgeschlagen. Er nennt ein Beispiel: «Wir haben demografische Umwälzungen, Ungleichheit, Menschen, die auf der Strecke bleiben? Dann lass uns eine Mauer bauen!» Und so hatte der dicke Blonde aus Übersee ebenfalls einen Einfluss auf diesen Ratgeber – wenn auch nur als abschreckendes Beispiel.
«Unsere Sehnsucht, Dinge einfacher und lösbar zu machen, kann im Verderben enden», sagt Andri Hinnen. Das sei grotesk. Generell befinde sich die Gesellschaft auf dem richtigen Weg. «Eigentlich drehen wir ja gerade völlig ab in Sachen Komplexität.» Das Genom sei entschlüsselt, immer mehr Leute würden länger denn je studieren, Informationstechnologien entwickelten sich rasant: «Big Data ist der Shit.» Gleichzeitig lässt sich laut Andri Hinnen eine enorme Komplexitätsmüdigkeit beobachten: «Wir wollen alles kurz und einfach, das Hirn möglichst nicht anstrengen, um etwas zu begreifen.»
Mehr Tiefe gewünscht
Der Wunsch nach Vereinfachung lässt sich monetarisieren, wie das Beispiel von Schriftsteller und Unternehmer Rolf Dobelli zeigt – «ein kluger und gebildeter Mann», sagt Gieri Hinnen. Dobellis Firma Get Abstract bietet erfolgreich «compressed knowledge» an: Zusammenfassungen längerer Publikationen «zur effizienten Wissensaufnahme». Bei dem Thema wird Gieri Hinnen emotional. «Wir müssen uns wieder mehr mit der Herausforderung der Tiefe auseinandersetzen, statt uns der Debatte zu verweigern.» Schlimmstenfalls sei Vereinfachung «der Tod der direkten Demokratie».
Im Buch zitieren die Brüder Hinnen William Ross Ashby, den britischen Pionier der Kybernetik, die sich mit komplexen Systemen befasst: «Es braucht Varietät, um Varietät zu absorbieren. Die Modelle, mit denen wir die Welt zu verstehen versuchen und anhand deren wir die Stellhebel zu erkennen glauben, müssen der Komplexität der Aussenwelt gerecht werden. Wenn sie das nicht tun, laufen wir Gefahr, eben die falschen Hebel zu betätigen.»
Andri und Gieri Hinnen: Reframe It! 42Werkzeuge und ein Modell, mit denen Sie Komplexität meistern. Murmann Publishers, 200 Seiten, 34.90 Franken.
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