Das Evangelium von den Zwillingen Jesus und ChristusWenn Jesus und Christus zwei Menschen gewesen wären
Der Fantasy-Autor Philip Pullman erzählt die Evangelien neu und übersetzt eine theologische Diskussion in eine populäre Erzählung.
Von Michael Meier Es ist immer wieder erstaunlich, welche Resonanz Bücher finden, die die traditionelle Lesart der Evangelien und ihres Helden infrage stellen. Mit «Der gute Herr Jesus und der Schurke Christus» hat der britische Bestsellerautor Philip Pullman eine anhaltende Debatte in den englischen Medien ausgelöst. Das Buch stand wochenlang auf Platz 1 der Bestenlisten. Sogar der Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams, ist begeistert vom neuen Werk Pullmans, der durch seine Fantasy-Trilogie «His Dark Materials» weltberühmt wurde. Pullman mischt den Stoff der vier kanonischen und auch der apokryphen Evangelien zu einer neuen Erzählung. Die zugrunde liegende Idee: Maria bringt Zwillinge auf die Welt – Jesus, einen gesunden und kräftigen Jungen, der später als charismatischer Wanderprediger das unmittelbar anbrechende Reich Gottes verkündet, und Christus, den schwachen und kränklichen Zwillingsbruder, der die Botschaft seines Bruders vermarktet, indem er sie aufschreibt, mit Zeichen und Wundern anreichert, mythisch überhöht und so den Grundstein für die spätere Grosskirche legt. Als «Geschichtsschreiber für das Reich Gottes» schreibt er die Dinge so auf, «wie sie hätten sein müssen». Er fügt den historischen Fakten die «Wahrheit», die «spirituelle Bedeutung» hinzu. Jesus selber aber weist in der Wüste, von Satan versucht, eine Grossinstitution Kirche zurück. So originell die Buchidee dem unbedarften Leser vorkommen mag, so abgelutscht ist sie eigentlich. Sie bedient sich der theologischen Gegenüberstellung des Jesus der Geschichte und des Christus des Glaubens, mit der heute jeder Theologiestudent vertraut ist. Das Thema von historischer und höherer Wahrheit, das Pullman entfaltet, gehört zum Pflichtstoff an jeder theologischen Fakultät. Seit Jahrzehnten fragt die Leben-Jesu-Forschung: Wer war der Mensch Jesus wirklich? Was hat der Wanderprediger tatsächlich getan und gesagt? Was haben spätere Autoren und Interpreten an Hoheitstiteln, Wundern und Selbstaussagen hineininterpretiert, damit Jesus zu Christus wurde? Verdienstvoll, aber nicht neu Im Prinzip übersetzt der Autor mit seinem Buch einfach eine akademische Diskussion in eine populäre Erzählung. Atheist Pullman macht sich die Arbeit historisch-kritischer Bibelwissenschaftler zu eigen und erklärt etwa die wundersame Speisung der 5000 damit, dass Jesus die Menge zum Teilen der Lebensmittel aufforderte. Das mag alles verdienstvoll sein, neu ist es nicht und auch nicht sehr redlich, wenn der Autor für sein Werk Originalität einfordert. Ja, es wirkt eher arrogant, wenn der aufgeklärte Atheist den vermeintlich obskuranten Theologen glaubt Vernunft predigen zu müssen. Mit Gewinn hingegen macht sich Pullman die schlichte Erzählsprache der Evangelien zu eigen. Inhaltlicher und sprachlicher Höhepunkt des Buchs ist ohne Zweifel Jesu Zwiesprache mit Gott im Garten Gethsemane: eine grosse Anklage gegen den schweigenden und abwesenden Gott, der den Heerscharen der Beter nie antwortet. Solange Gott aber schweigt, muss die Institution Kirche auf die sich immer neu verzögernde Wiederkunft Christi vertrösten. Pullmans Jesus erbittet von seinem Herrn – wenn er ihm denn zuhören würde –, dass eine Kirche, die in seinem Namen aufgebaut werde, arm, machtlos und bescheiden sein solle, «dass sie über keine Autorität verfügt als über die Autorität der Liebe». Wenn schon Kirche, dann solle sie nicht wie ein Palast sein, sondern wie ein Baum, in dessen Schatten Tiere lagern und Vögel nisten, ein Baum, der Früchte trägt, gutes Holz liefert und seinen Samen verstreut. Die Bibel inspiriert alle Auch dieses Bild hat Pullman der Bibel selber entnommen, dem bei Lukas und Matthäus erzählten Gleichnis des Senfkorns, das zum Baum wächst, in dessen Zweigen die Vögel nisten und das so das Reich Gottes symbolisiert. Die Evangelien, die Pullman neu schreiben will, sind voller unübertreffbar schöner Gleichnisse, Parabeln und Mythen. Bilder, die offenbar auch einen eingefleischten Religionskritiker und Fantasy-Autor zu überzeugen vermögen. Offenbar weil sie auf eine Wahrheit hinweisen, die auch für Atheisten und Bibelwissenschaftler die historische Faktizität übersteigt. Philip Pullman Der gute Herr Jesus und der Schurke Christus. Aus dem Englischen von Adelheid Zöfel. S. Fischer, Frankfurt 2011. 240 S., ca. 28 Fr.
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