Der Sündenfall des Gutmenschen John Hiatt, ein Sänger wie von Sinnen Der Schweizer Schriftsteller Jörg Steiner wird 80 Zum Tod des Komponisten Franz Furrer-Münch
Theater Basel, Theater Basel – Als Helen und Danny gerade beim Candle-Light-Dinner sitzen, platzt ihr Bruder mit blutverschmiertem Hemd herein. Liam ist der Idiot der Familie, ein peinlicher Pechvogel, und natürlich hat er wieder mal etwas ausgefressen. Angeblich wollte er nur einem Mann helfen, der von «zwielichtigen Arabern» zusammengeschlagen wurde. Aber je länger er herumdruckst, desto klarer wird: Liam, der vorbestrafte White-Trash-Rassist, hat das Opfer selber so übel zugerichtet. Was soll man jetzt mit dem zerknirschten Sünder machen? Danny, der selbstgerechte Humanist, will die Polizei rufen, aber Helen stellt ihn gnadenlos vor die Alternative: wir oder «die da draussen», abstrakte Ideale oder Solidarität mit dem Nächsten. Am Ende verlieren alle alles. Dennis Kellys subtiler Psychothriller «Waisen» wirft grosse Fragen auf, ohne sie zu beantworten: Wo hören Loyalität und nachsichtige Liebe auf und wo fängt Komplizenschaft an? Darf, soll man bei einem Waisenkind auch mal ein Auge zudrücken? Als privilegierter Mittelständler kann man ja leicht über den ausländerfeindlichen Bruder die Nase rümpfen. Aber man kann auch mit humansten Absichten schuldig werden: Gerade aufgeklärte, politisch korrekte Bürger sind im Ausnahmezustand zu allem fähig. «Wahrheit» ist, wie immer bei Kelly, eine Verhandlungssache, eine Frage der Perspektive. Perrigs Inszenierung setzt im sterilen Weiss von Wolf Gutjahrs Bühne ganz auf die Spannung zwischen innen und aussen. Draussen: Das ist die schmutzige, böse Welt der Verzweifelten, Entwurzelten und Prügelknaben der Gesellschaft; drinnen verschanzen und verheddern sich die Familienmitglieder in einem Netz von stickigen Liebesbeziehungen, fürsorglicher Nähe, Misstrauen und «Verständnis». Katka Kurzes Helen ist das Muttertier, das die bedrohte Familie mit Zähnen und sanften Klauen verteidigt und selbst ihre Schwangerschaft als Druckmittel einsetzt. Florian Müller-Morungens Liam ist der grosse dumme Junge, dessen unterwürfige Hilflosigkeit rührt und dessen Brutalität erschreckt. Auch wenn Perrig die Verstörung der Waisenkinder und den Sündenfall des Gutmenschen ein wenig zu aufdringlich inszeniert: Dieser Abend geht unter die Haut. Martin Halter Nächste Aufführungen am 1., 5., 11. und 12. November. Konzert Zürich, Kaufleuten – «Wenn du durch die Hölle gehst», hat Churchill einmal gesagt, Zitatenlieferant für alle Gelegenheiten: «Dann geh weiter». John Hiatt erreichte so die «Open Road», die mythische amerikanische Strasse mit dem unbegrenzten Horizont, wo die Sonne rot wie Lippenstift untergeht. «Lipstick Sunset» spielt der Songschreiber gegen Ende seines zweistündigen, fantastischen Konzertes im Kaufleuten. «Open Road» kommt als viertes Stück dran, das Titelstück seines 21. Albums, und dies ist eines seiner besten, und das will etwas heissen. Wie alle grossen weissen Sänger, Bob Dylan und Tom Waits etwa, aber auch Nick Cave oder Kurt Cobain, klingt die Stimme des 58-jährigen Amerikaners zu wahr, um schön zu sein. Man hört ihr alle Schmerzen und Verluste an, den Selbstmord seines Bruders und seiner Frau, die Drogen natürlich und den Alkohol, die Trennungen, die Verzweiflung, das Ansingen gegen das drohende Verstummen. Zugleich klingt diese durchschossene Stimme bei aller Spröde biegsam, an den schwarzen Soulsängern geschult. Hier singt einer vom Leben und vom Überleben zugleich. John Hiatt hat so viele gute Songs geschrieben, dass er sich über eine Stunde Zeit lassen kann, bevor er mithilfe seines brillant aufspielenden Trios die bekannteren anstimmt, die von so vielen Musikern nachgesungen wurden. Aber nicht sie sorgen für den Höhepunkt des Konzertes, nicht der ergreifende Gospel «Have a Little Faith in Me», den er als erste Zugabe spielt, und auch nicht «Slow Turning» oder das fröhlich rumpelnde «Memphis in the Meantime». Sondern am stärksten rührt «Freight Train» aus dem letzten Album, ein schwerer Blues über einen, der so schnell durchs Leben fährt, dass er immer zu spät merkt, was er wieder verpasst hat. Hiatt singt den Song mit heiserem Falsett, als fehlten ihm die Töne für die Gefühle, die er nicht mehr zulassen kann. Mit seinem Auftritt am Sonntag war John Hiatt das Unglaubliche gelungen: An das sensationelle Konzert anzuschliessen, das Robert Plant und seiner Band am Samstag in Basel gelungen war. Beide Sänger inspirieren sich am amerikanischen Süden. Anders als Hiatt, der sich als Songschreiber profiliert, versteht sich Plant heute als Interpret. Als ehemaliger Sänger von Led Zeppelin hat er niemandem mehr etwas zu beweisen. Statt bei einer Wiedervereinigung mitzumachen, zieht es der 62-jährige Brite vor, die Songs und die Musik seiner Vorbilder neu zu interpretieren. In Basel liess er sich von nicht weniger als drei Bandleadern begleiten und inspirieren. Gemeinsam spielten die Musiker eine schwermütige und doch schmerzhaft klare Musik zwischen allen Genres. Die exzellent umarrangierten Stücke von Plants alter Band klangen selbst wie die Klassiker, die er so verehrt. Besser kann man solche Musik nicht spielen. Jean-Martin Büttner Geburtstag Eisenhower war Präsident der USA, René Coty regierte Frankreich, Adenauer die Bundesrepublik Deutschland, als der 26-jährige Bieler Lehrer Jörg Steiner Verse von einer Lilofee publizierte, die in blaue Seide gekleidet durch die Nacht geht und das Fruchtfleisch des grünen Mondes von Vermont zwischen den Lippen spürt. 1956 war kein gutes Jahr für ein Debüt, und so dauerte es Jahre, bis man das Besondere an diesem Autor erkannte, der dem Leser mit seiner wunderbar leichten Sprache Freiheiten lässt wie kein anderer. «Ich bin der Schriftsteller, der nie sagt, wie es gewesen ist, sondern nur, wie es gewesen sein könnte», gab er 2000 zu Protokoll, und wer die Bieler Trilogie «Weissenbach und die anderen» (1994), «Der Kollege» (1996) und «Wer tanzt schon zu Musik von Schostakowitsch» (2000) kennt, weiss längst, dass für diesen Autor «die Wahrheit eine Geschichte ist, jeden Tag eine andere». Steiner ist nicht von der Sprache, sondern vom Jazz her gekommen. Von einer Musik, der 1954 noch etwas Rebellisches anhaftete. Aber obwohl seinem Schreiben von den Romanen «Strafarbeit» (1962), «Ein Messer für den ehrlichen Finder» (1966) und «Das Netz zerreissen» (1982) – die alle drei seine Arbeit als Lehrer in einem Schwererziehbarenheim spiegeln – bis hin zur berührenden Darstellung der Arbeitslosigkeit in «Der Kollege» immer etwas sozial Engagiertes anhaftete, interessierte ihn am Jazz, aber auch am Schreiben nicht das Rebellische, sondern «das Emanzipatorische»: «etwas, das befreit oder andere, neue Möglichkeiten eröffnet». Wobei eins der wichtigsten Mittel dieser Befreiung Steiners ebenso skurrile wie intelligente Fantasie ist. Ein Faszinosum, das sich von den frühen poetischen Versuchen über die mit dem Zeichner Jörg Müller produzierten Kinderbücher – etwa «Der Bär, der ein Bär bleiben wollte» (1976) oder «Der Eisblumenwald» (1983) – wiederum bis hin zum «Kollegen» verfolgen lässt, wo der Satz «Der Osterhase kriecht bestimmt aus der Erde» etwas wie die geheime Losung zwischen Greif und dem imaginären Kollegen ist. Jörg Steiner reagiert unwirsch, wenn man ihn auf seinen 80. Geburtstag anspricht. Grund dazu hätte er allerdings nicht. Denn selbst wenn sein legendärer Lockenkopf inzwischen grau geworden ist: Seine Bücher haben der Zeit standgehalten. Man sehe sich in diesen Tagen nur die Reportagen aus Stuttgart und Paris an und lasse die folgenden Sätze aus «Das Netz zerreissen» von 1982 auf sich wirken: «Man behängt uns mit Gewichten. Man höhlt uns aus. Wer sich wehrt, zappelt im Netz. Und dann, eines Tages, hast du auf einmal die Kraft, das Netz zu zerreissen.» Oder man schlage die «Bieler Trilogie» oder deren amerikanischen Ableger «Ein Kirschbaum am Pazifischen Ozean» von 2008 an irgendeiner Stelle auf. Da wird man Satz für Satz den Beleg dafür finden, dass wir, um eine ganz einfach und wie selbstverständlich daherkommende, in jeder Wendung wunderbar geglückte, hintergründige und inspirierte Schweizer Prosa zu lesen, keineswegs zu Robert Walser zurückzublättern brauchen. Charles Linsmayer Nachruf Bei einem Besuch in Niederglatt vor Jahren gab Franz Furrer-Münch der Journalistin Himbeeren aus dem Garten mit nach Hause, auch einen Blumenkohl, und irgendwie passte die Geste zu diesem Komponisten, der sich nie nach den PR-Gepflogenheiten seiner Zunft gerichtet hat. Unabhängigkeit war ihm stets wichtig gewesen, von keiner ästhetischen Schule und keiner Institution hat er sich vereinnahmen lassen; er ging seinen Weg, leise, unkonventionell, oft zu wenig beachtet. Ein Selbstversorger, auch musikalisch. Geboren wurde Franz Furrer-Münch 1924 in Winterthur, seine musikalische Ausbildung erhielt er in Basel und Zürich, dazu kam ein naturwissenschaftliches Studium an der Zürcher ETH. Später gab ihm seine Arbeit am Kartografischen Institut der ETH die Freiheit, zu komponieren, was und wie er wollte. Ein eindrückliches und eigenständiges Œuvre ist so entstanden. Der Grundton ist nachdenklich, zerbrechlich, oft geradezu träumerisch; aber immer wieder finden sich auch angriffige Klänge oder ein subtiler Humor. Texte von Eugen Gomringer oder Rilke haben Furrer-Münch inspiriert, auch mit bildender Kunst hat er sich befasst. Zuwider war ihm dagegen alles, was nach Masche aussah: Er wollte die Musik immer wieder neu denken, und es ist diese Haltung, die seinen Werken ihre Frische verleiht (und die auch das Gespräch mit ihm spannend machte). Nun ist Franz Furrer-Münch 86-jährig gestorben. Susanne Kübler Jörg Steiner, fotografiert 2002.Foto: Thomas Burla Draussen die schmutzige, böse Welt: «Waisen» von Dennis Kelly. Foto: Judith Schlosser
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch