Frohe Weihnacht, auch wenn das Jesuskind in falsche Hände kam
Als Engelchen verkleidet, erlebten Tagi-Leserinnen und Leser früher Heiligabend. Und unter dem Christbaum lagen warme Socken oder Taschentücher. Von Helene Arnet
Der Heiligabend ist fester Bestandteil der meisten Kindheitserinnerungen, und auch wenig sentimental veranlagte Erwachsene werden an Weihnachten nostalgisch. Thomas Mann zum Beispiel vermerkte in seinen Tagebüchern jedes Jahr, wie das Weihnachtsfest verlief. Als er in den USA kein Lametta bekommen konnte, schnitt er Staniolpapier eigenhändig in Streifen. Wie haben die Leserinnen und Leser des «Tages-Anzeigers» früher Weihnachten erlebt? Wir haben sie aufgerufen, es uns mitzuteilen. Nachfolgend ein paar Ausschnitte aus diesen besinnlichen und fröhlichen Weihnachtserinnerungen. Im weissen Nachthemd Es war um das Jahr 1950, berichtet Brigitta Marti, dass die Mutter mit den drei älteren Geschwistern ein kleines Krippenspiel einübte. Es kam der Heiligabend: «Die Lichter brannten am Baum. Meine Mutter las aus dem Weihnachtsevangelium. Am Boden sass mein ältester Bruder als Josef verkleidet in einem dunklen Umhang und mit einem Stab in der Hand. Neben ihm kauerte die drei Jahre jüngere Schwester in blaues Tuch gehüllt, ganz andächtig und sanft, ihrer bedeutenden Rolle bewusst. Als nun die Stelle kam, wo der Erzengel Gabriel der Maria das Jesuskindlein bringen sollte, trat der jüngere Bruder Ursli herein, mit Kartonflügeln am Rücken und in ein weisses Nachthemd gekleidet. (. . .) Er trug das Jesuskindlein aus Porzellan selbstbewusst im Arm und steuerte direkt auf seinen Bruder, den Josef, zu und legte ihm das Kind in den Schoss. Der verdutzte Josef hielt das Jesuskind fest, indes Maria wie eine Furie aufschoss und den Erzengel wutentbrannt anschnauzte: Nicht ihm musst du den Jesus geben, du dummer Löli, der gehört mir. (. . .) Der Engel aber würdigte Maria keines Blickes, er drehte sich um und schwebte lächelnd zur Tür hinaus. Der Schwester hatte er es heimgezahlt, dass sie ihn immer herumkommandierte.» Die verbotene Stube Dass sich die Kinder als Engelchen verkleideten, scheint um 1950 in Mode gewesen zu sein. Monika Lötscher aus Zürich hat uns ein Foto geschickt, das zwei Engelchen auf dem Perserteppich vor der Krippe sitzend zeigt. «Unsere Weihnacht spielte sich nicht so anders ab als heute», berichtet die 60-Jährige. «Alles war einfach viel, viel bescheidener: Geschenke, Essen etc. Aber das sehnsüchtige, geheimnisvolle Warten ist für die Kinder wohl heute noch ähnlich. Speziell war der Ort des Festes: in der guten Stube. Sie wurde sehr wenig benützt, nur bei hohem Besuch und eben an Weihnachten. Und dies, obwohl wir in eher einfachen Verhältnissen aufwuchsen, eine kleine Vierzimmerwohnung für eine 5-köpfige Familie. Das war aber zu jener Zeit völlig normal.» An eine Stube, die nur selten benutzt wurde, erinnert sich auch die 92-jährige Alice Unternährer aus Zollikofen. «In unserem Daheim hatte es zwei Stuben: die eine diente als Esszimmer, wenn Besuch kam, die andere wurde nur an Festtagen geöffnet. Das war sozusagen ein heiliges Zimmer. Man durfte auch niemals mit Schuhen hinein. Meinen Erinnerungen zufolge war der Tisch jeweils an Weihnachten voll beladen mit Päckchen und Süssigkeiten. Wir waren keine arme Familie. Meine Mutter war aber besorgt, dass wir auch mitbekamen, dass nicht alle Menschen um uns herum ein solches Fest feiern konnten. So schickte sie uns Kinder jeweils mit einem grossen Paket gefüllt mit Kleidern und Esswaren zu einer Nachbarsfamilie.»An eine Weihnacht, 1925, erinnert sich Alice Unternährer besonders: Sie war damals sechs Jahre alt. «Da bekam ich eine Puppe. Meine Eltern erwarteten, dass ich nun als Mädchen das Puppenspiel entdecken würde. Weit gefehlt! Mit grosser Enttäuschung warf ich die unerwünschte Puppe in eine Ecke. Mich interessierten die Knabenspiele viel mehr.» Die falsche Lokomotive Viele Leserinnen und Leser erzählen von Geschenken, die heute kaum einem Kind hierzulande mehr Freude bereiten würden: Socken, Schuhe, warme Kappen oder Handschuhe. Rolf Flückiger aus Kollbrunn aber bekam mit 10 Jahren eine Modelleisenbahn. Er hatte im Schaufenster eines Spielwarengeschäfts eine Märklin-Bahn gesehen, die ihn entzückte. Da seine Familie nicht «mit irdischen Gütern gesegnet» war, konnte er nicht mit der Erfüllung seines Wunsches rechnen. Doch kurz vor Weihnachten trug sein Vater ein Paket in der richtigen Grösse ins elterliche Schlafzimmer: «Ein innerer Kampf begann. Die Neugierde lockte zum Öffnen des Paketes, während eine zweite Stimme dies verbat. (. . .) Die Neugierde siegte. In einem günstigen Augenblick stahl ich mich ins Elternschlafzimmer, öffnete den Kasten, ergriff die Einkaufstasche und stiess auf eine Märklin-Schachtel. Jetzt mahnte die zweite Stimme eindringlich, diese nicht zu öffnen, damit wenigstens noch ein Rest an Überraschung bliebe. (. . .) Am Weihnachtsabend öffnete sich die Tür. Der Baum stand in hellem Lichterglanz und darunter lagen die Pakete. Ich riss das grösste, mir bekannte Paket auf und fand darin eine Lok mit vier Wagen samt Schienen. Einen Moment war ich sprachlos, denn die Lokomotive war nicht die gewünschte . . . Mit gespielter Überraschung bedankte ich mich überschwänglich bei meinen Eltern. Noch heute nach über 60 Jahren dreht das Bähnchen, manchmal zur Freude meines Enkels, seine Runden. Ich hänge an ihm, es erinnert mich zwar an ein Vergehen, aber auch an den Glanz längst vergangener kindlicher Weihnachtstage.» Ovomaltine zum Teilen Heidi Handschin aus Dietikon hat uns ein Foto gesandt, das sie mit ihren drei Geschwistern herausgeputzt in Sonntagskleidern und in handgestrickten beissenden Strumpfhosen zeigt. In der Stube der Grosseltern sangen sie aus voller Kehle «Stille Nacht». «Bei uns wurde immer viel Wert auf die Weihnachtsfeier gelegt – und nicht auf das Geschenkeverteilen», schreibt sie. «So sangen wir Lieder unter dem Christbaum und lauschten der Weihnachtsgeschichte. Erst am 25. Dezember gab es nach dem Zmorge das Päckli. Als Kinder verstanden wir das zwar nie ganz und konnten kaum schlafen; schön war die Vorfreude trotzdem. Unser Vater erzählte uns alle Jahre wieder, dass er und seine drei Geschwister während des Krieges jeweils eine Büchse Ovomaltine zum Teilen unter dem Christbaum vorgefunden hätten. Und auch wenn wir – verglichen mit den heutigen Geschenkebergen – relativ karg beschenkt wurden, hatten wir doch viel mehr als die Generation vor uns.» Der Christbaum steht im Mittelpunkt von Peter Mettlers Erinnerung: «Seit Anfang der 50er-Jahre stand am Heiligabend in unserer Stube ein prächtig geschmückter Christbaum. Anstelle der üblichen Glasspitze thronte zuoberst eine ganz spezielle Konstruktion: Die Wärme von drei Kerzen bewegte ein darüber liegendes Windrad. Dadurch wurden drei Engel in Bewegung gesetzt, die in ihren Händen bewegliche Schwengel trugen, die bei jedem Umgang zwei Glocken berührten und zum Tönen brachten. Zuerst las der Vater aus der Bibel die Weihnachtsgeschichte, und wir Kinder warteten ungeduldig auf das Auspacken der unter dem Baum liegenden Geschenke (Socken, Nastücher, Schokolade, und wenns mal hoch kam: ein Fünfliber). Aber das war noch lange nicht der Höhepunkt des Heiligabends. Durch die vielen Kerzen am Baum wurde es in der Stube immer wärmer. Die Engel kreisten immer schneller, und das Geläut wurde immer intensiver. Und irgendwann war es so warm, dass die Engel sich so schnell drehten, dass ihre Schwengel die Glocken überflogen und nicht mehr berührten. Das Gebimmel verstummte; dafür war das Gejohle von uns Kindern umso ohrenbetäubender angesichts dieses technischen Wunders. Dem Vater blieb nichts anderes übrig, als den Heiligabend für beendet zu erklären und sofort die Fenster zu öffnen, um die drückende Hitze nach draussen zu entlassen.» Christkind davongeflogen Glöckchen gehören auch zur Weihnachtserinnerung von Inge Werner. Sie kam 1947, als 4-Jährige, mit ihrer Mutter als Kriegsflüchtling aus Leipzig zu ihren Grosseltern nach Zürich. «Mit ihnen erlebte ich mein erstes Weihnachtsfest. Es gab erst ein bescheidenes Essen, anschliessend gingen wir in die russische Kirche. Meine Grosseltern waren russisch-orthodoxen Glaubens. Der Gottesdienst war ein eindrückliches Erlebnis, die vielen Kerzen und der wunderschöne Gesang des Frauenchors. In der Zwischenzeit schmückte meine Gotte den Christbaum mit Lametta, Kerzen und bunten Kugeln. Darunter legte sie die wenigen Päckli. Auf ein zartes Erklingen eines Glöckleins hin durfte ich die Wohnzimmertür öffnen. Mein Herz klopfte wie wild, als ich den wunderschönen Christbaum sah. Meine Gotte liess einen Spalt der Balkontüre offen und meinte, eben sei das Christkind davongeflogen, vielleicht könne ich es ja noch sehen. Ich lief aufgeregt auf den Balkon und schaute zum Nachthimmel hinauf, aber das Christkind war nicht mehr zu sehen.» Das Schlusswort geben wir der Schriftstellerin Ida Bindschedler (1854–1919), die in den «Turnachkindern» erzählt, wie Zürcher Kinder in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Weihnachten feierten. Am Schluss des Fests flüstert Bindschedlers Alter Ego Lotti ihrer Schwester Marianne zu: «Es ist ganz sicher, dass es ein Christkind gibt. Wer könnte sonst so etwas Wundervolles wie einen Christbaum ausdenken!» «Ich lief auf den Balkon und schaute zum Nachthimmel, aber das Christkind war nicht mehr zu sehen.» Inge Werner über Weihnachten 1947 In den 50er-Jahren wurden die Kinder gern als Engel verkleidet. Andernorts war der Christbaum die Sensation. Fotos: privat In Sonntagskleidern und beissenden Strumpfhosen wurde am Weihnachtsabend gesungen. Geschenke gabs am Morgen danach.
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