Bruderduell bei Föhnsturm
Die Brüder Diethelm aus Siebnen gehören zu den schnellsten Surfern der Welt. Bei Tempo 70 ist Remo beim Rekordversuch gescheitert – weil der Föhn «löchrig» war.
Das Föhndiagramm zeigt am Donnerstag kurz nach Mittag 10,5 Hektopascal Druckdifferenz zwischen Lugano und Zürich an. Windsurfer dürfen für den Urnersee 80 km/h Südföhn vom Gotthard her erwarten. Der oberste Zipfel des Urnersees, direkt neben der Reussmündung, ist in der Schweiz der beste Platz für Rekorde: viel Föhn und ruhiges Wasser. Für Remo Diethelm ist das die Gelegenheit, um seinem älteren Bruder Patrik den Rekord – 75 km/h, wie Remo meinte – für den schnellsten Ritt auf einem Schweizer Gewässer abzujagen. Und Patrik Diethelm ist nicht irgendjemand: Er ist der zweitschnellste Windsurfer der Welt.
Der jüngere Bruder Remo ist ebenfalls ein Star in der Surferszene, auch wenn er im Hauptberuf ganz brav Sekundarlehrer in Siebnen sowie Autor und Regisseur von Theaterstücken ist. Um 11 Uhr parkiert der 42-Jährige seinen Bus an der Seestrasse vis-à-vis von Flüelen. Er schleppt je ein halbes Dutzend Surfbretter, Segel, Masten und Gabelbäume, eine ganze Palette an verschiedenen Heckflossen und Fussschlaufen sowie eine mobile Werkstätte mit sich. Der Föhn hat früher als prognostiziert eingesetzt – die ausgefranste Urnerflagge knattert im 20-grädigen Südwind.
Surfikone als Coach
«Nun kommt mein Coach», sagt Remo. Dem zweiten Lieferwagen entsteigt eine sonnengebräunte Frau. Sie heisst Karin Jaggi, ist 29-fache Weltmeisterin und schnellste Windsurferin der Welt. Vor allem aber: Die 43-Jährige ist die Partnerin von Remos Bruder Patrik. Sie ist Profi seit 20 Jahren und führt zusammen mit ihrem Mann die edle Surfboardmarke «Patrik Diethelm». Patrik ist der Shaper und Designer, Karin die Marketingfachfrau. «Das schafft Remo eh nie», hat Patrik seiner Partnerin auf den Weg gegeben – und er meinte seine 75-km/h-Marke.
Die Segel aufzuriggen, dauert eine Stunde. Die Diskussionen zwischen Remo und Karin in Surferslang drehen sich um die Fragen, ob man eine 24er- oder eine 26er-Finne fahre – so heissen die Heckflossen –, ein 5er- oder ein 5,6er-Segel und ob ein moderates Slalomboard oder ein «ganz böses» Speedboard eingesetzt werden soll. Dann geht Remo auf die erste Erkundungsfahrt. Er weiss nicht, wie tief die Kabel hängen, welche die Baggerinsel festhalten. Und schon jetzt beklagt sich Remo über den ältesten Urner – der Föhn sei «löchrig». Und das Wasser nach der Reussmündung «choppy».
Nur schon kleine Wellen sind Gift für Speed. So richtig schnell ist ein Ritt nur, wenn starker Wind von schräg hinten kommt und bloss die hintersten paar Quadratzentimeter des Brettes und die Finne das Wasser berühren. Die Reibungsfläche zwischen Wasser und Brett muss möglichst klein sein. Remo Diethelm ist ein wahrer Akrobat auf dem Brett – in jüngeren Jahren ist er auch Snowboard-Weltcuprennen gefahren.
Im ersten Versuch mit einem «halb bösen» Board, natürlich eine Konstruktion seines Bruders, schafft Remo Diethelm 70,34 km/h, der Rekord des Bruders wackelt. Für Remo ist es eine persönliche Bestmarke auf einem Schweizer See – und Schweizer Rekord wegen einer speziellen Konstellation. Die Diethelm-Brüder haben einen Schweizer Vater und eine italienische Mutter. Patrik fährt seine Rekorde für Italien. Das ist gut für Remo, der mit 80 Kilo über 10 Kilo leichter ist als sein Bruder. Und Gewicht braucht es, um vom Winddruck nicht abgehoben zu werden. Remo fährt deshalb mit Bleiweste.
Ohropax gegen die Angst
Das Glück ist nicht auf Remos Seite. Obschon ihm Karin Jaggi noch einen Tipp für Sturmwind gibt. «Fahre mit Ohropax!» Die Stöpsel dämpfen das Pfeifen des Windes, die Surfer haben weniger Angst, an die Grenze zu gehen. Bei Tempo 70 ausgehebelt zu werden, ist wie ein Sturz auf Beton. Im dritten Versuch hat Remo einen «Spinout» und kommt knapp um einen Sturz herum. Was Remo erst um Mitternacht vom Statistiker des Schweizer Windsurferverbands erfährt: Der Rekord des scheinbar unschlagbaren Bruders liegt «nur» bei 71,388 km/h. Er hat ihn also nur ganz knapp verfehlt.
Der Föhn wird immer unberechenbarer, Sturm wechselt mit Flaute. Weil radikale Speedboards nur 50 bis 80 Kilo Auftrieb haben, säuft Remo bei Flaute richtiggehend ab. Einmal muss ihn die leichtere Karin Jaggi draussen im 9-grädigen Urnersee retten, indem sie mit einem grösseren Brett rausfährt und mit dem kleinen von Remo wieder reinsurft. Die letzten 200 Meter muss sogar die beste Windsurferin der Welt schwimmen.
Namibia ist schneller als Uri
Der Urnersee ist heute keine Speedpiste. Diese bleibt der berühmte Kanal von Lüderitz in Namibia. Dieser 900 Meter lange und nur 7 Meter breite Kanal wurde zwischen Wüste und Atlantikstrand speziell für die Kiter und Windsurfer ausgebuddelt. Karin Jaggi hat hier auf 500 Metern eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 85,76 km/h herausgefahren, Remo Diethelm 89,47 und sein Bruder Patrik als Zweitschnellster der Welt 96,91, nur knapp hinter dem Franzosen Antoine Albeau.
Noch schneller als die Windsurfer sind die Kitesurfer mit 105 km/h. Die allerschnellste windgetriebene Konstruktion auf Wasser ist die Vestas Sailrocket 2, ein asymmetrisches Boot auf Tragflügeln, das in Namibia schon 121 km/h erreicht hat. Weil Kiter auf der Speedpiste des Urnersees nicht fahren dürfen, bleiben in der Schweiz die Surfer vorderhand schneller.
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