Die Ideologie der SP war ihr zu eng
Niemand umarmte Chantal Galladé bei ihrem Abschied herzlicher als Natalie Rickli. Ein Sinnbild für das frostige Verhältnis zur eigenen Partei.
Mitten im Ratssaal stehen die Nationalräte Schlange. Sie warten geduldig, um die Grande Dame der SP zu herzen: Susanne Leutenegger Oberholzer (70), für das Baselbiet mit Unterbruch seit 1983 im Nationalrat.
Etwas abseits steht Chantal Galladé (45). Sie lacht, hält einen grossen Blumenstrauss in der Hand. Die SP-Nationalrätin aus Winterthur hat ebenfalls ihren letzten Tag, nach 15 Jahren im eidgenössischen Parlament. Auch sie wird geküsst und hört nette Worte, doch niemand steht Schlange. SVP-Präsident Albert Rösti verabschiedet sich und FDP-Bundesrat Ignazio Cassis, am herzlichsten drückt sie ihre Freundin Natalie Rickli, SVP-Nationalrätin. Daneben stehen Galladés Töchter und ihre Mutter. Sie sind eigens für die Verabschiedung von Winterthur nach Bern gereist.
Die Episode ist ein Sinnbild für Galladés Verhältnis zur eigenen Partei, das eher frostig ist. Wie vergangenen Donnerstag im Parlament steht sie auch in der SP abseits, am rechten Rand; geschätzt wird sie überparteilich. Galladé denkt sozialliberal, will die Armee modernisieren, aber nicht abschaffen, befürwortet eine starke Polizei, glaubt nicht an die Allmacht der Verwaltung – und trägt ihre Meinung in die Öffentlichkeit.
Niedrige Toleranz in der SP
Mit ihren Aussagen ist sie mehrmals angeeckt, hat die Partei vor den Kopf gestossen. Bereits als sie vor über zehn Jahren mit dem heutigen SP-Ständerat Daniel Jositsch ein schärferes Jugendstrafrecht forderte, kritisierten sie die Genossinnen und Genossen.
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Auf ihre offene Art spricht Galladé über das schwierige Verhältnis zur SP. Sie sitzt im Café des Bundeshauses, neben ihr die jüngste Tochter Victoria, die sich ungemein freut über Pippi Langstrumpf auf dem Titelbild des «Züritipps». Die Ideologie ihrer Partei sei ihr manchmal zu eng, sagt Galladé. Sie lacht häufig im Gespräch, streicht die Haare zurück, blickt erwartungsvoll. Es müsse möglich sein, über alles zu diskutieren, zuzuhören und andere Meinungen zu akzeptieren. Das fehle ihr zuweilen in der SP: «Die Toleranz ist niedrig.» Und es müsse auch für Themen Platz haben, die nicht ursozialdemokratisch seien – wie die Sicherheit, ein von bürgerlichen Männern dominiertes Terrain.
Kampf gegen Waffen
Sicherheitspolitik war im Nationalrat ihr wohl wichtigstes Anliegen. Als Präsidentin der entsprechenden Kommission setzte sie sich mit dem Kauf von Kampfjets auseinander, hinterfragte diesen kritisch. Kurz nachdem sie das Präsidium 2013 abgegeben hatte, wehrte sie sich als Sozialdemokratin gegen den Gripen-Kauf. Genauso engagiert setzte sie sich dafür ein, dass das Waffenexportgesetz nicht weiter gelockert wird und Armeewaffen im Zeughaus abgegeben werden müssen. Ein Anliegen, mit dem sie jedoch nicht durchkam.
Nun hofft sie, dass ihr Nachfolger Daniel Frei oder sonst jemand für diese Anliegen weiterkämpft. Anders als für ihre sozialliberale Haltung erhält Galladé für ihr Engagement gegen Waffen Lob aus dem streng linken Flügel der SP, zum Beispiel von Mattea Meyer, Nationalrätin und Co-Präsidentin der Winterthurer SP. «Sich gegen die Waffenlobby zu wehren, ist hart», sagt Meyer. Sie sagt auch, es sei wichtig, dass es in der Partei unterschiedliche Meinungen gebe. Da gehöre auch jene von Galladé dazu.
Trotzdem glaubt Galladé, für ihre Haltung bezahlt zu haben. Bei den letzten Wahlen setzte sie die Partei auf einen weniger attraktiven Listenplatz und zog ihr Neulinge vor. Ein unüblicher Vorgang, der die populäre Politikerin enttäuschte. Doch das Volk folgte der SP nicht und verhalf Galladé zu einem guten Wahlresultat. Das freute sie: «Für diese Menschen mache ich ja auch meine Politik.» Niederlagen lächelt sie weg – und geht weiter.
Mit 30 wurde Chantal Galladé in den Nationalrat gewählt, nun wird sie Präsidentin des Schulkreises Winterthur-Töss. Foto: Adrian Moser
Verlieren und weitergehen: Diese Eigenschaft bewies Galladé mehr als einmal. Und meist waren die internen Kämpfe härter als jene vor dem Stimmvolk. In den Ständerat schaffte es 2007 Verena Diener, nicht sie. Galladé hatte sich zugunsten der Grünliberalen zurückgezogen, aber erst auf überparteilichen Druck. 2014 nominierte die SP Jacqueline Fehr als Regierungsrätin. Chantal Galladé musste auf einen «Traumjob» verzichten. Genauso wie 2016 auf das Nationalratspräsidium. Die SP-Fraktion sah die heutige Präsidentin Marina Carobbio statt Galladé vor.
Doch nun hat sie in Winterthur eine neue, attraktive Stelle, weshalb sie zurücktritt. Vergangenen Sommer ist sie zur Schulpräsidentin des Kreises Winterthur-Töss gewählt worden. Den Schritt zurück in ihre Heimat sehen manche als Abstieg. Es ist aber wohl das Beste, was sie nach dem Nationalrat hat machen können: Der SP-Sitz im Zürcher Regierungsrat ist besetzt, und ihr Bruder Nicolas Galladé ist Winterthurer Stadtrat. Fallen diese beiden Jobs weg, stehen kaum andere wichtige Exekutivämter zur Verfügung. Eines davon ist das Schulpräsidium, ein Vollzeitamt. Galladé führt dort fast zwanzig Personen und verdient 160'000 Franken.
Abschied von Maurer
Galladé steht vor dem Bundeshaus-Café, den Lieblingsbären ihrer Tochter auf dem Arm. SVP-Bundespräsident Ueli Maurer geht vorbei, bleibt stehen, lacht freundlich und schüttelt ihr die Hand. «Wir sehen uns wieder», sagt er – während Galladés Tochter durchs Bundeshaus rennt.
Erstellt: 07.12.2018, 09:18 Uhr
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