Von der Vergangenheit eingeholt
Ein 53-jähriger Schweizer hat in den Neunziger Jahren seine beiden Töchter wiederholt missbraucht. Jetzt wurde er mit vierdreiviertel Jahren bestraft. «Das Urteil hilft uns nicht», sagt eine Tochter.

An der Berufungsverhandlung vor dem Obergericht Anfang des Monats war Leni (alle Namen geändert) nicht dabei gewesen. Doch zur Urteilseröffnung erschien die mittlerweile 26-jährige Frau, von der ihr Vater noch immer in der Kindheitsform ("s Leni") spricht. Sie kam und irgendwie wollte sie doch nicht da sein. Bevor ihr Vater, der sich auf freiem Fuss befindet, zur Urteilseröffnung kam, suchte sie sich im Gerichtsgebäude eine Nische, in der sie sich vorübergehend unsichtbar machen konnte.
Dass es ihr nicht gut geht, ist offensichtlich. Im Gerichtssaal sucht sie jenen Platz, der am weitesten vom Sitzplatz des Vaters entfernt ist. Sie will ihm nicht begegnen, kann ihn nicht anschauen. Sie hat mitbekommen, was er über sie sagte, was er in verschiedenen Schreiben über sie, ihre Mutter und ihre Schwester festhielt. Sie macht es «hässig, dass er mich so in den Dreck zieht». Im anderen Moment aber tut es ihr leid, dass er - auch wegen ihr - jetzt ins Gefängnis muss.
«Unser Leben ist zerstört»
Diese Ambivalenz, diese Zerrissenheit ist zu einer Konstante in ihrem Leben geworden. Er ist ihr Vater und ihr Missbraucher. Das weiss sie, seit sie als 13-Jährige realisiert hat, dass das, was ihr Vater mit ihr machte, nicht üblicher Bestandteil jeder Kindererziehung ist, sondern schlicht und einfach nicht normal. «User Leben ist zerstört», sagt sie. Und sie sagt das auch im Namen ihrer drei Jahre jüngeren Schwester Moni.
Von einem zerstörten Leben war auch in der Berufungsverhandlung die Rede. Damals sagte der Verteidiger des 53-Jährigen: «Er wurde durch das Verfahren beruflich und privat ruiniert». Es ist nachvollziehbar, dass die Verhaftung, über zehn Jahre nach den letzten Übergriffen, für ihn «ein grosser Schock» war. Er hatte wohl nicht mehr damit gerechnet, dass ihn die Vergangenheit doch noch eingeholt.
Über Jahre hinweg immer wieder missbraucht
Begonnen hatten die Übergriffe im Jahre 1989, als «s Leni» zweijährig war. Der Missbrauch dauerte bis in den Sommer 1998. «S Moni» war fünfjährig, als ihr Vater 1995 begann, an ihr herum zu manipulieren. Und damit erst im Frühherbst 2002 damit aufhörte. Für das Gericht von Bedeutung waren aber nur die Tathandlungen ab dem 1. Oktober 1992. Die früheren Taten sind aufgrund des damals gültigen Rechts verjährt.
Erst im Jahre 2011 konnten sich die Schwestern durchringen, Strafanzeige gegen ihren Vater einzureichen. Was sie schildern mussten, war für das Gericht «schlüssig, stimmig, nachvollziehbar und nicht abgesprochen». Auch ihre Angaben in Bezug auf die Art und Intensität der Übergriffe waren «glaubhaft».
Vater: «Es kam zu Übergriffen»
Demgegenüber wirkten die Aussagen des Vaters laut Obergericht «äusserst flach, konturlos, wenig anschaulich, einsilbig, stereotyp und widersprüchlich». Der Vater hatte, als spreche er von einer anderen Person, vor Gericht eingeräumt: «Es ist zu Übergriffen gekommen. Aber niemals in dieser extremen Form und Zeitdauer». Er habe den Eindruck als sei «etwas gezielt gegen mich geplant». Sein Verteidiger verlangte ein Glaubwürdigkeitsgutachten über Leni. Es sei möglich, dass ihre Borderline-Störung «zu Fehlwahrnehmungen» führte.
Kurz vor der Berufungsverhandlung hatte der 53-Jährige dem Gericht eine 49-seitige Schrift eingereicht. Darin wollte er «Sachen festhalten, die mir wichtig sind und die bisher nicht genügend Raum hatten». Der Mann, der von sich sagt, er habe Mühe, schlecht über Menschen zu sprechen, die er einmal gern gehabt habe, hatte laut Gericht eine eigentliche «Rechtfertigungsschrift» verfasst. Eine Schrift, die nach Meinung der Richter, «nichts ausliess, um die Ex-Frau und die Kinder schlecht darzustellen».
Mehr Lippenbekenntnis als Einsicht
Das Obergericht verurteilte den 53-Jährigen wegen mehrfacher sexueller Nötigung zum Nachteil von Leni und wegen mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern zum Nachteil von Leni und Moni zu einer Freiheitsstrafe von vierdreiviertel Jahren. Wegen Pornografie kassierte er noch eine bedingte Geldstrafe von dreissig Tagessätzen. Leni wurde eine Genugtuung von 25'000 Franken zugesprochen, Moni erhält 12'000 Franken.
Das Gericht ging von einem mittelschweren Verschulden aus. In Bezug auf Einsicht und Reue habe er einen «äusserst zwiespältigen Eindruck» hinterlassen. Er hatte gesagt: «Es tut mir leid, was passiert ist. Ich habe riesige Fehler begangen und bin mir bewusst, dass ich Spuren hinterlassen habe». Das Gericht hatte den Eindruck eines Lippenbekenntnisses. Der Mann bemitleide vor allem sich selber. Ihm wurde allerdings zugute gehalten, dass seit den Übergriffen viele Jahre vergangen sind.
Kann das Urteil gegen den Vater dazu beitragen, das Geschehene besser zu verarbeiten? «Nein, das Urteil hilft uns nicht», sagt Leni nach der Urteilseröffnung. Früher habe sie das Ziel gehabt, sich einmal mit dem Vater an einen Tisch setzen und über das Geschehene sprechen zu können. Heute, sagt sie, «will ich nichts mehr mit ihm zu tun haben». Es klingt nicht, als ändere sie so schnell ihre Meinung.
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