Zürichs unterschätzter Stadtteil
Witikon, der östlichste Zürcher Stadtteil, wird schnell mal vergessen. Eine Ehrenrettung.

Touristen sieht man selten an der Buchholzstrasse, am Blaumeisliweg, am Oeschbrig oder an der Luegete. Auch in den zahlreichen Fremdenführern, die Zürich den Besucherinnen und Besuchern aus aller Welt näherbringen, steht kaum etwas über Witikon. Man könnte den Stadtteil oberhalb des Klusplatzes leicht vergessen. Und tatsächlich tut das die Welt rundherum gern. Selbst viele Stadtzürcher wissen nicht, dass es sich bei Witikon um einen Teil von Zürich handelt. Spätestens an der Schlyfi, dem von Wald umgebenen, haarnadelartigen Knick der Witikonerstrasse, endet in vielen Köpfen das Stadtgebiet. Was oberhalb liegt, ist zu weit weg, uncool, Dorf, Niemandsland. Knapp 12'000 Stadtbürger werden so unterschlagen.
Man kann es ihnen auch nicht verdenken. Sie wissen es einfach nicht besser. Sie sind ja nur Transitpassagiere, sind höchstens mal entlang des unansehnlichen alten Einkaufszentrums im Stau gestanden. Sie kennen nur die Häuser, die die Strasse säumen. Sie haben nichts Auffälliges gesehen, nichts erfahren, sie haben Witikon nicht erlebt.
Der Waschplan als Wertekompass
Es ist ja auch nicht so, dass Witikon gross Schlagzeilen produzieren würde. In der Zeitung findet das Quartier wohl am häufigsten auf jenen Seiten statt, auf denen Namen und Daten schwarz umrandet sind. Ansonsten taucht es weit vorn in den Baustellenstatistiken der Stadt auf. Derzeit wird sowohl das Zentrum aufwendig umgebaut, als auch die Witikerstrasse saniert. Dauer: eine Ewigkeit. Aktueller Verbesserungsquotient des Standorts: negativ.

Und auch wer sich dann doch mal zu Fuss an den Hang verirrt, vielleicht um einen Onkel oder eine Urgrossmutter zu besuchen, mag nicht verstehen, wieso man hier wohnen sollte: in einem lang gezogenen Quartier ohne richtiges Zentrum, ohne spannende Ladenzeilen, ohne Unterhaltungsangebot, ohne viel Farbe. Man sieht bloss eine Vielzahl lieblos zusammengewürfelter Mehrfamilienhäuser. Ein Sammelsurium dessen, was die Schweizer Architekten in den Jahrzehnten ab 1940 so an uninspirierter Gebrauchsware verbrochen haben.
Doch wer mehr Zeit hier verbringt und seinen Lebensmittelpunkt hierherverlegt, spürt die Seele des Quartiers schnell auf. Sie wird einem serviert – mitsamt dem Waschplan und der Bedienungsanleitung für den Tumbler. Denn die Witiker schreiben Werte gross, die vielerorts gar nicht mehr geschrieben werden. Nachbarschafts- und Hausgemeinschaftspflege, Höflichkeit, Integration, soziales Bewusstsein, Lokalstolz.
«Wir haben hier eine Art Rentnerparadies kennen gelernt – ähnlich wie im Sunshine State.»
Man ist, man wird hier, ganz schnell Teil von etwas. Läuft man hier durch die Strassen, muss man damit rechnen, freundlich gegrüsst zu werden («Grüezi wohl!»), trägt man eine rote Mütze, muss man damit rechnen, darauf angesprochen zu werden («Sie gseht mer vo wiitem!»). Wählt man in der Gemüseabteilung in der Migros dummerweise die Nummer für die roten statt für die gelben Peperoni – der Preis ist derselbe, aber es geht um die Statistik, um die Bestellmengen, worum? –, nimmt einen der Verkäufer trotz langer Schlange mit zum Tatort und instruiert einen. Zur Sicherheit, für das nächste Mal. Kehren die Nachbarn von einem Tagesausflug zurück, bringen sie einem etwas mit («Gnüssed diä Nussturtä us em Engadin!»). Und trifft man des Winters am Waldrand eine Dame an, die ihr altes Brot den Krähen verfüttert, wünscht sie einem um 16 Uhr einen tiefen, gesunden Schlaf («Guet Nacht!»).
Eine Art Rentnerparadies
Obwohl hier inzwischen Tausende Menschen leben, haben sich weite Teile von Witikon den Dorfcharakter bewahrt. Ein Quartier von Zürich ist das Gebiet erst seit 1934. Und auch wenn man mehr und mehr kleine Kinder und Familien antrifft: Es dürfte einige geben, die die Eingemeindung noch miterlebt haben.
Die Gebrüder Bálint und Márton Dobozi, obwohl auch schon über vierzig, gehören nicht dazu. Sie sind auch keine Witiker. Und doch sind sie (fast) jeden Tag im Quartier: Im Untergeschoss eines Wohnblocks an der Buchzelgstrasse, gut abgeschirmt von unansehnlichen anderen Blöcken, betreiben sie gemeinsam mit Domenico Ferrari ein Tonstudio. Hier produzieren sie unter dem Namen Pacifica moderne Clubmusik, schreiben Soundtracks für Filme und proben mit dem Rumpelorchester, der Band von Sacha Winkler alias Kalabrese, Mitbetreiber des weltbekannten Clubs Zukunft unten im Kreis 4.
Sie nennen ihr Studio «Zurichflorida», «wir haben hier eine Art Rentnerparadies kennen gelernt – ähnlich wie im Sunshine State», erklärt Bálint Dobozi, der ältere der beiden Brüder, die Namenswahl. «Der Rhythmus ist ein ganz anderer als unten in der Stadt. Das hat auch Vorteile.»
So schätzen sie etwa die Ruhe, die sie umgibt. Das Hochkommen nach Witikon empfinden sie als Erholungsmoment – und gleichzeitig als effizienzsteigernd. Alle drei sind Väter, Zeit ist kostbar. Hier lenkt sie nichts ab. Spontanen Besuch im Studio gibt es nicht. Eine Bar oder einen Club, der sie herauslockt, auch nicht. Und wenn die Kreativität doch mal blockiert sein sollte, kann man kurz hoch auf den Kirchenhügel und den Blick schweifen lassen. Dobozi glaubt, dass das Quartier auch für andere Kreative spannend sein könnte: «Die Mieten sind tief, die Anbindung an die Stadt mit dem 31er gut. Der Rest ist Kopfsache.»
Was ihm und vielen anderen zum absoluten Glück fehlt, sind öffentliche Treffpunkte. Cafés und Restaurants. Aber auch mit einem türkischen Laden mit starkem Kaffee wäre er schon zufrieden, meint er schliesslich.
Es fühlt sich an wie auf dem Dorf
Mindestens einen identitätsstiftenden Laden gibt es glücklicherweise. Er heisst Lädelifrau, existiert seit bald 60 Jahren und verkauft Delikatessen. Flavia Marchi und ihr Partner Hans Stucki suchen aus der ganzen Schweiz und dem grenznahen Ausland köstliche Ess- und Trinkwaren zusammen. Hier kaufen die Witiker Bauernbrot und Züpfe, Glarner Gitzi oder Panettone.

Alles fühlt sich an wie auf dem Dorf. Auch die Sprache, die Marchi für ihren monatlichen Lädelibrief wählt: fantasievoll und verspielt wie ein Kinderaufsatz. Ihre Kundschaft beschreibt sie als «Lädelifamilie», die Witiker als friedliebende Geniesser. «Und sie argumentieren gern. Aber wer sich mit ihnen anlegt, muss sich das gut überlegen, denn sie sind gebildet.»
Ob sie nicht mitbekommen, dass viele ihr Quartier nicht für voll nehmen und nur zu gern ignorieren, fragt man sich da. Die Antwort: doch. Natürlich. Aber es interessiert sie nicht. Sie wissen, was sie an ihrem Witikon haben.
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«Komplexe hat hier niemand»

Renate Bosshard-Nepustil, wie sind Sie hier in Witikon gelandet?
Ich komme ursprünglich aus Stuttgart, bin nun aber schon bald 35 Jahre in der Schweiz und seit zehn Jahren in Witikon. Ich bin gut gelandet und fühle mich wohl hier.
Was wussten Sie vorher über Witikon?
Ich habe früher – ehe ich als Pfarrerin in Stäfa und Niederurnen tätig war – zehn Jahre lang im Kreis 6 gewohnt. Da kriegt man auch Witikon mit. Zum einen auf sonntäglichen Spaziergängen, zum anderen wegen einer besonderen kirchlichen Tradition.
Welche meinen Sie?
Zu meiner Studienzeit war hier mit Gerhard Traxel ein Pfarrer tätig, der mit ganzem Herzen Lutheraner ist. Darum hängt hier in der Kirche auch ein Kreuz. Ich fand das erstaunlich und schön, dass das in der Zwinglistadt möglich ist. Nicht weil es meinem eigenen Glauben entspricht, sondern weil es eine gewisse Aufgeschlossenheit und Offenheit zeigt. Dafür steht Witikon.
Wofür sonst noch?
Für gute Luft, gute Sicht und Wohnraum in unterschiedlichen Preislagen. Weite Teile von Witikon sind in privater Hand, und manchen Eigentümern scheint es wesentlich wichtiger zu sein, gute Mieterinnen und Mieter zu haben, als die Einnahmen zu maximieren.
Witikon ist ohne die Stadt nicht zu denken.
Das ist klar. Dort arbeitet man, dort macht man die Ausbildung, dort geht man abends aus. Witikon ist ein Paradies für Pensionierte und Kinder. Doch spätestens ab der Oberstufe muss man in die Stadt runter. Viele Schülerinnen und Schüler besuchen das Gymnasium.
Manche nennen Witikon das Florida von Zürich.
Das klingt interessant – zumal ich beobachte, dass sich Witikon verjüngt und dass sich die Generationen hier gut verstehen. Neuzugezogene integrieren sich meist schnell in dieses dörfliche Leben am Rande der Stadt.
Ärgern sich die Witiker darüber, dass sie von den anderen Zürchern nicht richtig wahrgenommen werden?
Ich habe noch nie gehört, dass sich jemand darüber aufgeregt hat. Witiker wissen, was sie an ihrem Quartier haben. Einen Komplex hat hier sicher niemand. Im Gegenteil: Viele sind stolz, hier zu wohnen.
Wofür schlägt das Herz der Witiker?
Für ihr Quartier. Ausserdem für den Sport und die Vereine. Die Sportclubs haben regen Zulauf, viele engagieren sich in den beiden Kirchgemeinden. Spannend finde ich auch, dass Menschen, die hier aufgewachsen sind und wegzogen, später mit ihren Familien oft wieder hierher zurückkehren.
Was auffällt: Man grüsst sich hier, reagiert aufeinander.
Ja, ich finde auch, dass hier eine gewisse Grundheiterkeit herrscht. Wer in den Quartierbus der Linie 91 einsteigt, wird sofort in ein Gespräch verwickelt. Das ist wie ein fahrendes Wohnzimmer.
Sind die Witiker Bünzlis?
Nein. Obwohl hier alles seine Regeln hat und die Leute schon auch sehr kritisch sein können, verstellen sie sich nicht gegenüber Neuem.
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