Grosse Momente 2017
Mutige Tänzer, ein urkomischer König, ein gnadenlos ehrlicher Comedian. Diese Künstler haben für die Kultur-Highlights des Jahres gesorgt – aus der Sicht dieser Zürcher Persönlichkeiten.

Rolf Lyssy
Der Auftritt des Jazzpianisten und hochbegabten Sängers Raphael Jost in der Aufführung «A Tribute to Frank Sinatra» im Theater Rigiblick bleibt mir unvergesslich in Erinnerung. Musik vom Feinsten. Man kann weiterhin Raphael Jost mit seinem Trio jeden ersten «Swinging Monday» im Monat in der Commihalle sehen und hören.
Skor
Mein Highlight dieses Jahr war das Stereo-Luchs-Album. Alle meine hohen Erwartungen wurden übertroffen, und ich freute mich für meinen Freund, dass ihm dieser Wurf gelang. Umso trauriger war es, dass ich seiner ausverkauften Plattentaufe nicht beiwohnen konnte. Ich hörte Geschichten von ausgelassener Stimmung und Besuchern, die auf Tischen standen, um einen Blick auf den Luchs zu erhaschen. Ich spielte zeitgleich in Thun im schmucken Mokka vor 20 Leuten, was mir auch recht war, aber scheinbar bin ich bei den Zürcher Kultur-Highlights dieses Jahr nie vor Ort gewesen. Sorry.
Jan Gassmann
Mein bester Moment im letzten Jahr: der dunkle Morgen, an dem ich zum ersten Mal mit dem Album «Lince» von Stereo Luchs zur Arbeit geradelt bin und mich so richtig zu Hause gefühlt habe in dieser Stadt.
Christian Spuck
Es hat wahnsinnig viel Spass gemacht, dem Schlussmonolog des Königs in Herbert Fritschs Theaterstück «Grimmige Märchen» zuzuschauen – ich habe Tränen gelacht! Schauspielerisch grossartig von Markus Scheumann gespielt und absolut gelungene Regie – gekonnt, präzise und pointiert. Das gehört auf jeden Fall zu meinen persönlichen Highlights dieses Jahr!
Barbara Frey
Alberto Giacometti war bekannt dafür, die Menschen, die für ihn Modell sassen, mit so eiserner Aufmerksamkeit zu betrachten, dass ihm jede noch so winzige Unkonzentriertheit an ihnen auffiel. Er konnte dann ungehalten reagieren und forderte höchste Disziplin und Präsenz. Sein forschender, fordernder Blick, sein förmliches «Eintauchen» in sein Gegenüber bilden sich in seiner Kunst vollkommen ab. Daher rührt die ganz spezifische Erschöpfung, die man als Betrachter seines Werks am Ende des Ausstellungsbesuchs empfindet: Man hat nicht nur selbst geschaut, sondern man ist auch permanent angeschaut worden. Die grosse Giacometti-Ausstellung im Kunsthaus hat gezeigt, wie eindringlich man selbst unter Beobachtung geraten kann, wenn Kunstwerke den Blick dessen, der sie geschaffen hat, zurückstrahlen. Die ernsthafte Auseinandersetzung mit Giacometti lässt einen spüren: Man entgeht ihm nicht.
Boni Koller
Wenn an einem heissen Juliabend ein Skispringer zusammen mit den Fledermäusen über die Flussbadi segelt, dann fällt mir wieder auf, dass Zürich viele angenehme Ecken hat. «Eddie the Eagle» auf der Kinoleinwand des Unteren Letten zeigte den Leidensweg des britischen Sportlers Michael Edwards zu den Olympischen Winterspielen 1988 in Calgary. Wenn dann – gerade nach einem bösen Sturz Eddies – von links drei johlende Kinder ins Bild kommen, die auf Fahrrädern über die Eisenbahnbrücke fetzen und dabei Feuerwerk abbrennen, dann ist das fast schon ein perfekter Moment.
Nenad Mlinarevic
Im mit Goldfarbe besprayten Schädel serviertes Kalbshirn oder Heliumballons mit Wodka- und Bergamottegeschmack hatte ich in Zürich noch nie. Bis ich im Frühling in der Wild Bar einkehrte. Temporäre Gastrokonzepte wie dieses tragen viel bei zur Attraktivität der Stadt. Klar ist es schade, wenn sie wieder verschwinden, aber das hält auch die Dynamik am Leben.
Stereo Luchs
Easy Frage. Eigentlich kein grosses Problem, ein paar inspirierende kulturelle Momente in Erinnerung zu rufen. Aber dieses Jahr? Uff. Nichts. Konzerte, Festivals, Film, irgendwas? Nein, irgendwie kommt da nichts. Das schlimme Fazit: Ich habe tatsächlich das ganze Jahr ziemlich manisch nur mit meinem eigenen Kram, sprich dem neuen Album verbracht. War da wirklich gar nichts? Doch. Der vegetarische Teller im Délices d’orient zur Mittagspause oder die Samosa vom India Street Food abends nach der Probe. Das Feierabendbier im Hardaupark nach dem Studiotag mit Bachata aus der Boombox eines Familienfestes als Soundtrack. Die Vinyl-Session im Kontiki, an welcher du die Single bei Gefallen direkt von DJ Buzz abkaufst, nachdem sie gespielt wurde. Keine «grossen» Kulturmomente, eher die tägliche Mikrodosis Stadtkultur – aber die reicht zum Glück schon ganz gut aus.
Petra Volpe
Anfang 2017 war ich in der «Manifesto»-Ausstellung von Julian Rosenfeldt im Park Avenue Armory in New York. Cate Blanchett rezitiert in 13 verschiedenen Szenen und Rollen 50 Kunstmanifeste. Die Filminstallation ist ein episches Werk – sinnlich, intelligent, humorvoll, präzise, scharf, eloquent, aufwühlend, inspirierend und tiefsinnig. Kunst, die mich beglückt und anregt. Die Ausstellung war auch Grundlage des gleichnamigen Films, der dieses Jahr im Kino lief.
Sebastian Rösch
Mein erster Besuch bei Mame Coffee an der Josefstrasse 160 war für mich ein regelrechtes Erweckungserlebnis in Sachen Kaffee. Seither gehe ich immer wieder dorthin. Emi, die Chefin, bietet Sorten an, die einen regelrecht abheben lassen. In bester Erinnerung ist mir unter anderem eine Sorte aus Afrika, die frappierend nach grünen Tomaten schmeckt.
Ancillo Canepa
Christoph Sigrist, der bekannte Pfarrer des Grossmünsters, lud mich vor einigen Monaten ein, an einer Diskussion zum Thema «Humor und Glaube» teilzunehmen. Schlussfolgerung war, das Humor und Lachen die kürzeste Distanz zwischen zwei Menschen sind. Für mich ist Humor auch ein wichtiger Gradmesser, was die Qualität einer zwischenmenschlichen Beziehung betrifft. Ob privat oder beruflich. Bei vielen Fragen und Themen unserer Zeit, auch in religiösen, ist der Sinn für Humor oft vollständig abhandengekommen. Deshalb schätze ich Pfarrer Christoph Sigrist und seine Berufs- und Lebenseinstellung ganz besonders. Und dass er FCZ-Fan ist, macht ihn mir zusätzlich sympathisch.
Romano Zerbini
Deftig kommt das Theaterstück rüber – und auch amtierende Stadtpräsidentinnen lassen in der schwarzen Arena Federn! Die Lacher sind auf sicher! Doch bald schon bleiben sie als getarnte Widerhaken im Halse stecken. Der Klamauk der hinreissend gespielten Szenen führt geradewegs ins mehrbödige dunkle Verderben. Eine Katharsis? Ja, aber nicht für jedermann – zu kalt, zu archaisch. Das Stück sitzt – und wie! Tage hallt es nach! «Meister und Margarita». Was für eine Entdeckung, unser Theater am Neumarkt!
Barbara Terpoorten
Mein Kulturmoment 2017 war das nationale Festival des Theaterjugendclubs Spiilplätz. Tanz- und theaterbegeisterte Jugendliche aus der ganzen Schweiz haben während ein paar Tagen die Stadt belebt und bespielt. Ein richtig cooles Festival. Eine der Vorstellungen war im Tanzhaus. Ich war tief berührt von der grossen Ehrlichkeit, welche die Jugendlichen auf der Bühne zeigten. Das war so pur, mutig und lustvoll: Tanztheater vom Feinsten. Mit ganz wenig Mitteln wurde ein grosser Moment auf der Bühne erschaffen. Danke.
Philipp Schnyder
Kurz vor Zürich, nach zwei Wochen Ferien und 700 Autobahnkilometern in den Knochen, erwarten wir kein kulturelles Highlight. Der Radiomoderator von SRF 3 warnt vor «Tieren auf der A 1». Wir drosseln das Tempo, die Scheinwerfer erhellen weisse Fahrbahnstreifen, aber keine leuchtenden Tieraugen. Plötzlich, ich erkenne ihn sofort, ertönt Stereo Luchs aus den Lautsprechern. Wir hören zum ersten Mal den Song «Dancehall», drehen auf, heben ab. «D Wält gseet guet us vo dobe!»
Elif Oskan
Mein Highlight 2017 war ein ganz persönliches: in der Wild-Bar-Küche zu stehen, zusammen mit meiner Mutter. Sie hat mir gezeigt, dass man die Herzen der Gäste berührt, wenn man seinem eigenen folgt und nicht allzu sehr wie ein Küchenprofi denkt.
Milo Rau
Ich las alle Bücher und hörte alle Songs von Kate Tempest noch mal vergangenes Jahr und war von jeder Songminute und jeder Gedichtzeile extrem beeindruckt und berührt – die grösste Dichterin unserer Zeit. Noch mal hinweisen will ich auf einen anderen Autor, der leider vergangenen Mai gestorben ist: Denis Johnson. Auch von ihm habe ich, ausgehend von seinem Tod, alles noch mal gelesen. Sein Buch «Train Dreams» ist die berührendste, verstörendste Novelle, die ich kenne. Und seine Afrika-Reportagen «In der Hölle» sollten Pflichtlektüre sein für jeden, der eine Reportage schreiben will.
Beat Schlatter
Drei Kulturereignisse haben mich in diesem Jahr nachhaltig berührt: 1. Die Arbeit über Giacometti im Schweizer Pavillon an der Biennale in Venedig. 2. «Der Wolf im Sihlwald». Ein spannendes und komisches Theaterstück, das Stephan Pörtner geschrieben hatte und im Sommer in Langnau am Albis in einer grandiosen Kulisse aufgeführt wurde. 3. «Paradies» vom Musiker Christian Häni von der Band Halunke. Er hat das Lied im April, ein paar Wochen vor der Veröffentlichung, an der Beerdigung meines Vaters gespielt.
Tinguely dä Chnächt
Wir sind zwanzig. Ich sitze am Tisch. Er sitzt mir gegenüber. Wir schreiben ein Buch. Er eines und ich eines. Die Ambition muckt auf, schon wieder, legt sich dann schlummernd zurück aufs Eis. Wir sind fünfundzwanzig. Wir sitzen auf einer Bank. Er neben mir, die anderen Freunde auch. Wir haben alle ein Buch gemacht. Dummies. Und die Ambition kuft traumtänzerisch auf dem Eis, legt sich hin in kurzem Applaus. Wir sind vierzig. Wir stehen am Tresen. Er neben mir. Semi Eschmamp hat sein Buch gemacht. Er hat es präsentiert, dort in Zürich, wo ich auch nur Tourist bin, zu Hause. Und alle waren sie da, die Freunde – und hatten kein Eis mehr.
Corine Mauch
Die Adaption von Michel Houellebecqs Roman «Unterwerfung» im Theater Neumarkt: ein brisanter Stoff, eindrücklich auf die Bühne gebracht. Eine grandiose schauspielerische Leistung und zu Recht ein Grosserfolg für das Theater Neumarkt.
Rafi Hazera
Mein Kulturmoment 2017 entstand im Mai am Auftritt des englischen Comedians Ross Noble im Volkshaus. Zum Schluss des Abends meinte er, man dürfe ihn jetzt alles fragen. Jemand fragte ihn tatsächlich, wie er mit dem Brand umgehe, bei dem er kurz zuvor all sein Hab und Gut verloren hatte. Der Künstler meinte darauf lachend: «Wow, du hast es geschafft, die unlustigste Frage der Welt zu stellen», was wiederum für Gelächter sorgte. Ross erklärte dann ganz einfach und souverän, wie er es erlebt hatte und wie froh er sei, dass seiner Familie nichts passiert war.
Adrian Notz
Mein Kulturmoment 2017 ausserhalb des Cabaret Voltaire in Zürich war, als ich in der Bibliothek des Theologischen und des Religionswissenschaftlichen Seminars neben dem Grossmünster diesen heissen Sommer im kühlen Innenhof ein paar Bücher für meine Freundin ausleihen ging. Wie gerne würde ich in diesem mittelalterlichen Hain nur dasitzen dürfen und einfach studieren, neben dem lieblich plätschernden Brunnen!
Christian Gamp
Für mich war das Highlight nicht ein tolles Konzert oder eine geniale DJ-Nacht, sondern der Nachmittag im April, an dem wir endlich den Bau unseres Lokals fertig hatten. Die Wände waren frisch gestrichen, die Bühne, die Lichtinstallationen und die Bar noch mit Plastikfolie abgedeckt. Als später zum ersten Mal alles ausgepackt und gestartet wurde, war das für mich der Kulturmoment des Jahres 2017. Die Boxen funktionierten, das Bier blubberte aus der Leitung und Hove, der allererste Live-Act, kamen zum Soundcheck. Wir haben alles selbst über Monate geplant und gebaut. Jetzt war der Sender endlich bereit.
Sabine Schaschl
Die Ankunft der Arachne im Sommer war aufregend. Tomás Saracenos Seidenspinnen leben in offenen kubischen Rahmen, und der Künstler lässt sie gerne auf die Netze anderer Spinnenarten treffen. Vorsichtig betrat ich den abgedunkelten Raum. Da war sie: langbeinig und elegant. Mit Verve begann sie ihr neues Zuhause einzurichten. Am nächsten Morgen präsentierte sich mir eine faszinierende, riesige und komplett neu gesponnene Netzstruktur – definitiv mein Kulturmoment 2017.
Samir
Fünf lange Tage hatten wir in einem dunklen Studio in Schwamendingen hart an meinem neuen Film «Baghdad In My Shadow» gearbeitet. Spätabends fuhren wir mit dem ganzen Team zum Oberen Letten. Die irakischen Darsteller waren sprachlos: Ein fantastischer Sonnenuntergang und die Spiegelung der Lichter im Fluss. Frauen und Männer, die sich amüsierten und zur Musik tanzten. Dazu Bier, Wein und gutes Essen. Die Irakis hatten sich nicht vorstellen können, dass es so etwas gibt. Wir feierten bis in den Morgen hinein.
Redl
Rückentherapie vorbei. Ich steige ins Auto und mache das Radio an. Dann hör ich diese Zeile aus «Ziitreis» von Stereo Luchs, in welcher er singt: «Die erschte Küss und Güffs sind scho chli länger her.» Im SRF rätselte man darüber, was «Güffs» sein könnten. Nun, ich meine sogar sagen zu können, wer es erfand. Dass dieses Synonym für «Joint», das in meinem Freundeskreis vor etwa 25 Jahren entstand, Teil der Stadtzürcher Sprache werden würde, damit hatte damals niemand von uns gerechnet. Und dass ich es in meinem Auto im nationalen Radio hören würde, noch viel weniger.
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