Zuerst die Revolution, dann das Galadinner
Anna Netrebko und ihr Gatte Yusif Eyvazov eröffneten mit der Premiere von «Andrea Chénier» die Saison an der Mailänder Scala. Es gab ein paar Buhrufe.

Diese Kostüme! Nein, nicht die auf der Bühne. Die schönsten gab es auch dieses Jahr wieder im Foyer der Mailänder Scala zu sehen. Da war die Dame, die das pelzbesetzte Titelblatt einer «Tosca»-Partitur trug (und einer Journalistin sehr gerne nicht nur den Namen des Designers, sondern auch ihren eigenen ins Blöcklein schrieb). Da war eine andere in Rot, die sich ebenfalls in Rot «Rinasci dalla dignità» (Du wirst aus der Würde wiedergeboren) aufs Décolleté gepinselt hatte. Da waren Pailletten, Glitzer, teure Frisuren, und dass auch viele Gesichter Ergebnisse von Haute Couture waren, gehört bei dieser glamourösesten aller Opernpremieren dazu.
Man konnte Carlo Gérard (Luca Salsi) da gut verstehen, wenn er in den ersten Minuten von Umberto Giordanos Oper «Andrea Chénier» mit mächtigem Bariton gegen die «gepuderte und eitle Welt» wetterte, in der er nur Diener sein durfte. Töten wollte er sie, die «Damen in Seide und Spitze», töten im Namen der Französischen Revolution.
Die Damen in Seide und Spitze im Jahr 2017 mussten sich allerdings nicht vor ihm fürchten: Denn er blieb in dieser Aufführung im Jahr 1789. Mario Martone, den man nördlich der Alpen vor allem als Filmregisseur («L'amore molesto») kennt, hat das Stück inszeniert, als wolle er in Konkurrenz treten zu den Geschichtsbüchern. Die Gavotte von Gérards Herrschaft ist reizend getanzt, die Perücken sitzen perfekt, und wenn die Revolutionäre den Salon stürmen, sehen sie aus, wie Revolutionäre halt auszusehen haben.
Bühne als historisches Gemälde
Am schönsten sind die Tableaus, zu denen dieses Personal immer wieder erstarrt; da wird die Bühne tatsächlich zum historischen Gemälde, und Martone kann zeigen, wie geschickt er den Raum zu gestalten weiss, den ihm die Tessiner Bühnenbildnerin Margherita Palli gebaut hat. Sobald sich die Figuren bewegen, bleibt davon allerdings nicht viel übrig. Sie stehen halt da und singen, schön gekleidet, schön beleuchtet.
Selbst die Liebenden schauen fast nur auf den Dirigenten – dabei hat das Publikum gerade von ihnen mehr Emotionen erwartet. Denn diese Liebenden, also die geläuterte Adlige Maddalena di Coigny und der Dichter Andrea Chénier: Das sind hier die Starsopranistin Anna Netrebko und ihr Gatte Yusif Eyvazov. 2015 haben die beiden geheiratet, seither schleust sie ihn wo immer möglich in ihre Aufführungen hinein. Die beiden sangen zusammen «La Traviata» in Wien und «Manon Lescaut» in Salzburg, dazu Arenakonzerte weltweit; kürzlich gaben sie auch noch eine rührend-kitschige Opera-Pop-CD mit dem Titel «Romanza» heraus.
Metallisches Timbre
Und nun debütierte Eyvazov also an der Scala, mit Live-Übertragung im TV und auf rund 30 Leinwänden in der Stadt. Dass sein Bild im Programmbuch als einziges grob gepixelt ist, muss ein Fehler sein. Denn man hat sich nach Kräften bemüht, die Besetzung als Traumbesetzung zu präsentieren: Der Scala-Chefdirigent Riccardo Chailly sagte im Interview mit dem «Corriere della Sera» gar, Eyvazov sei genauso gut wie Netrebko.
Nun, nach der Premiere, kann man feststellen: Er ist nicht schlecht. Er singt mit Leidenschaft, nuanciert, stilsicher. Was ihm fehlt, ist einzig eine attraktive Stimme; sein Timbre wirkt metallisch, die leisen Passagen klingen flach. Die Wärme, die Grosszügigkeit, die opulente Leichtigkeit von Anna Netrebkos Sopran ist definitiv nicht in seiner Reichweite. Und die beiden wissen das wohl: Jedenfalls stellten sie sich dem Publikum zuletzt nur im Trio mit Luca Salsi, um Einzelurteile der Loggionisti zu verhindern (dass die Buhrufe dann doch noch kamen, dürfte die Quittung für diese Vermeidungstaktik gewesen sein).
Riccardo Chailly konnte trotzdem zufrieden sein. Er war es, der diesen «Andrea Chénier» gewollt hatte, der an der Scala 1896 uraufgeführt, aber nun schon seit 32 Jahren nicht mehr gespielt worden war. Schon diese letzte Aufführung hatte Chailly dirigiert. Nun, als Chef, hat er sich die Wiederbelebung der Scala-Geschichte zum Ziel gesetzt und deshalb auch dieses Stück wieder ins Programm genommen.
Und ja, er kann etwas anfangen mit dieser Partitur, die das Chaos der Gefühle nach den Regeln des Verismo Takt für Takt abbildet. Zusammen mit der Filarmonica della Scala stürzt er sich mit Verve in diese Musik, schon in der ersten Szene geht es drunter und drüber – ohne dass man die Übersicht verlieren würde. Chailly sorgt für Transparenz und Strukturen, für Zug und Dramatik, für klangliche Präsenz des Orchesters und Raum für die Sänger; die Gavotte passt er ebenso nahtlos ins musikalische Geschehen ein wie die Zitate der Marseillaise.
Dass nur ganz wenige Premierengäste einen Zwischenapplaus wagten, spricht für ihn. Denn dies ist keine Oper der «schönen Nummern», sondern eine, die unablässig weiterstürmt: bis die Liebe von Maddalena und Chénier im gemeinsamen Tod ihre Krönung findet.
«Triumph!», jubelten denn auch die italienischen Zeitungen am Morgen nach der Premiere. Bemängelt wurde einzig, dass diesmal weder der italienische Staatspräsident noch der Premier nach Mailand gereist waren (die Nationalhymne hatte Chailly zu Beginn des Abends dennoch spielen lassen). Drei Minister und den Ex-Premier Mario Monti liess man als Ersatz nur knapp gelten. Und zitierte etwas säuerlich den Intendanten Alexander Pereira, der betont hatte, man mache Oper für die Musikliebhaber, nicht für die Politik.
Pereira in alter Frische
Dass Pereira nach seinem schwierigen Start in Mailand mittlerweile bestens integriert ist: Auch dies konnte man am Premierenabend feststellen. In alter Frische federte der ehemalige Zürcher Operndirektor durchs Foyer, begrüsste zusammen mit seiner rot glitzernden Daniela die prominenten Gäste und lächelte in jede Kamera. Dass er auch in Mailand dem Geld hinterherrennen muss, darf man vermuten; der von Dolce & Gabbana entworfene Blumenschmuck zierte jedenfalls nicht den ganzen Saal, sondern nur die Präsidentenloge. Und die abgeschlagenen Köpfe, welche die Revolutionäre über die Bühne trugen, sahen ziemlich selbst gebastelt aus.
Aber zumindest Letzteres passte ja gar nicht schlecht zum Opernverständnis, das an dieser Premiere zelebriert wurde. Die Französische Revolution ist lange her, signalisiert Martones Inszenierung; der Dichter Andrea Chénier wurde zwar real geköpft damals, aber hört mal, wie der singt! Um Luxus geht es hier, darum, dass all jene, die selbst im regulären Verkauf bis zu 3000 Euro für eine Karte bezahlt haben, einen ungestörten Abend geniessen können. Die paar Demonstranten, die man auch dieses Jahr wieder auf den ansonsten gesperrten Platz vor der Scala ziehen liess, änderten nichts daran, im Gegenteil: Sie wirken mittlerweile schon fast so dekorativ wie das Bühnenbild.
Und das Galadinner nach der Premiere, das wird selbstverständlich immer noch serviert.
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