Zum Abschied gern unverblümt
Der scheidende EZB-Präsident sagt, wie es um den Zustand der Wirtschaft steht: Schlimm. Das hat Folgen. War Barroso der Buhmann der vergangenen Woche, ist es jetzt Trichet, der den Zorn auf sich zieht.

EZB-Chef Jean-Claude Trichet sagt den denkwürdigen Satz en passant: «Insgesamt gesehen, insbesondere nach Lehman Brothers, ist das die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg.» Diese Aussage fällt beiläufig, der Reporter des französischen Rundfunksenders Europe 1 hakt nicht einmal nach. Hoch über der Stadt Frankfurt, hinter ihm die Skyline, nimmt der scheidende Präsident der Europäischen Zentralbank Stellung zur Eurokrise und den Interventionen.
Während des fast 13 Minuten langen Interviews im Frankfurter Eurotower sagt der 68-Jährige vieles, was er und andere schon etliche Male gepredigt haben: Das Vertrauen an den Märkten müsse wiederhergestellt werden. Aufgabe der EZB sei es, dafür zu sorgen, dass die Preise stabil blieben, Aufgabe der Euroländer hingegen, die beim Gipfel Mitte Juli gefassten Beschlüsse umzusetzen – und zwar möglichst rasch.
Nichts anderes hatte vor ihm unter anderen bereits EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso in seinem Brandbrief an die Staats- und Regierungschefs der Euroländer vergangene Woche gefordert. Es hagelte Kritik, weil Barroso zugleich eine Neubewertung des Euro-Rettungsfonds EFSF forderte – auch en passant, ganz am Ende seines Schreibens. Eine neue Debatte über eine Aufstockung des EFSF kam allen Beteiligten inmitten der Sommerpause ganz ungelegen, hatte man sich doch gerade von den Brüsseler Gipfeln in Richtung Berge oder Strand verabschiedet.
Scharfe Kritik
War Barroso der Buhmann der vergangenen Woche, ist es jetzt Trichet, der den Zorn auf sich zieht. Er habe die Märkte geschockt, die EZB verkomme zu einer Bad Bank, die Schrottpapiere übernehme, hiess es. Dabei war von vielen Finanzexperten genau das gefordert worden, dass nämlich die EZB statt irischen und portugiesischen Staatsanleihen italienische und spanische aufkauft.
In einer EZB-Erklärung am Sonntag hiess es unter Punkt sechs an letzter Stelle, die Zentralbank werde ihr Anleihekaufprogramm «aktiv umsetzen». Was genau gekauft wurde, wird üblicherweise nicht bekannt gegeben – um eine bessere Wirksamkeit zu erzielen, wie ein Sprecher sagte. Seit Beginn des Programms im Mai 2010 wurden Anleihen im Wert von 74 Milliarden Euro gekauft. Dass die EZB sich nun den italienischen und spanischen Papieren zugewandt hat, wurde von Händlern angesichts einer deutlichen Marktberuhigung vermutet. Die Renditen der langjährigen Staatspapiere der beiden Länder gingen von ihren Rekordhochs seit Einführung der Gemeinschaftswährung von mehr als sechs Prozent deutlich zurück.
Den Satz, dass die derzeitige Krise die schwerste seit dem Zweiten Weltkrieg sei und sich ohne Eingreifen der Entscheidungsträger möglicherweise zur schlimmsten seit dem Ersten Weltkrieg ausgewachsen hätte, habe Trichet übrigens nicht zum ersten Mal gesagt, sagte der Sprecher. Seit der Lehman-Pleite 2008 habe er das regelmässig geäussert. Dass der Satz diesmal so eingeschlagen sei, möge an den aktuellen Finanzmarktturbulenzen, vielleicht auch am Sommerloch liegen.
Nüchterner Stil an der EZB-Spitze
Wie lange die EZB noch Anleihen auf dem Sekundärmarkt aufkaufen will, sagte Trichet nicht. Es sei kein Ende abzusehen, erklärte der Sprecher. Die EZB werde so lange aktiv bleiben, wie es nötig sei.
Am 1. November wird Trichet nach achtjähriger Amtzeit an der EZB-Spitze vom italienischen Notenbankchef Mario Draghi abgelöst. Eigentlich war Trichet schon 1997 als erster Präsident ins Spiel gebracht worden. Dann einigten sich die Regierungen der EU im Mai 1998 auf den Niederländer Wim Duisenberg, in mündlicher Absprache aber damals schon auf Trichet, der mehrere Auszeichnungen erhielt – unter anderem das Grosskreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik und den Internationalen Karlspreis zu Aachen.
Fast wäre Trichets Designation zum künftigen EZB-Präsidenten noch gescheitert, als Ermittlungen über seine Rolle bei der fehlgeschlagenen Expansion der französischen Bank Crédit Lyonnais eingeleitet wurden. Doch er wurde wie erwartet freigesprochen und trat im November 2003 sein Amt an – und verfolgte zunächst den Kurs Duisenbergs, wenngleich im Stil weniger öffentlichkeitswirksam und nüchterner.
Europäisches Finanzministerium vorgeschlagen
Für Aufsehen sorgte Trichet Anfang Juni dieses Jahres, als er als frisch gekürter Karlspreisträger die Gründung eines europäischen Finanzministeriums forderte. Dieses soll in brenzligen Situationen direkt in die Entscheidungen von Euro-Staaten eingreifen können.
Da aber schon der Versuch der EU-Kommission, weitgehend automatische Sanktionen gegen Schuldensünder zu verhängen, am französischen und deutschen Widerstand scheiterte, gilt Trichets Vorschlag als nicht durchsetzbar. Aber am Ende einer langen Amtszeit mag sich der bekennende Literatur- und Opernfan wohl doch etwas unverblümter äussern, bevor er sich in die Bretagne zurückzieht.
Alexandra Regner/ dapd
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