Zuwanderer verzweifelt gesucht
Japan will mit einem Migrationsgesetz die Engpässe in der Wirtschaft stoppen. Aber die Einheimischen wehren sich gegen Arbeitskräfte aus anderen asiatischen Staaten.

An einem stillen Sonntag schlagen am Hafen von Ayukawahama fünf junge Männer die Zeit tot. Zu unternehmen gibt es nichts. Das einstige Hafenviertel von Ayukawahama wurde 2011 vom Tsunami weggespült; geblieben sind Brachland, Parkplätze, ein Imbiss und eine Tankstelle. Die Touristensaison ist auch vorbei, aber Ausländer verirren sich ohnehin selten auf die abgelegene Oshika-Halbinsel, die weit in den Pazifik hinausragt.
Die fünf jungen Männer sind erkennbar keine Japaner. Sie kommen aus Indonesien, sind 18, 19 Jahre alt und arbeiten als «technische Praktikanten» auf Fischerbooten. Ihre Namen wollen sie nicht nennen, mit Grund: Seit fünf Jahren beschäftigen Kapitäne im Bezirk Ishinomaki, zu dem Ayukawahama gehört, auf 25 Fischerbooten knapp einhundert solcher Praktikanten. «Ohne sie wäre unsere Fischerei nicht so schnell wieder auf die Beine gekommen», sagte jüngst der Fischer Yuji Kimura der Zeitung «Asahi». Er leitet die Agentur, die Indonesier nach Ishinomaki holt, um dort das Fischereihandwerk zu lernen, wie es offiziell heisst. Die Visa-Kategorie «technische Praktikanten» wurde einst eingeführt, damit japanische Firmen Mitarbeiter ausländischer Zweigstellen in Japan aus- und fortbilden können. Aber jeder weiss, dass das Programm missbraucht wird. Die jungen Männer werden als Billigarbeiter für sogenannte 3K-Jobs rekrutiert. 3K steht für «kitsui, kitanai, kiken»: hart, schmutzig und gefährlich.
174 Todesfälle
«Die Fischerei gilt als 3K», sagt Fischer Kimura, «immer weniger Japaner wollen das machen.» 3K ist keine Übertreibung: Nach Angaben des Justizministeriums sind 174 ausländische Praktikanten bei der Arbeit zwischen 2010 und 2017 ums Leben gekommen. Schlecht bezahlt ist der Job dazu. Viele junge Ausländer erhalten umgerechnet 3.50 Franken pro Stunde, das ist nicht einmal die Hälfte des gesetzlichen Mindestlohns. Sie haben kaum Freizeit und kein Privatleben; falls sie die Arbeitsstelle verlassen, erlischt ihre Aufenthaltsberechtigung. Jüngst klagten einige von ihnen in einer Anhörung vor einer Parlamentskommission, sie seien im Glauben nach Japan gekommen, sie würden ausgebildet, hätten aber überhaupt nichts gelernt. Ein Vietnamese warf seinem Arbeitgeber vor, man habe ihn zu Dekontaminierung an der Ruine des AKW Fukushima I gezwungen.
Derzeit arbeiten 258'000 «technische Praktikanten» in Japan, vor allem in der Provinz. Die meisten Japaner ignorieren das Phänomen, in den Städten sind die Ausländer fast unsichtbar. Die Einheimischen selbst werden aber immer weniger, 2017 starben fast 400'000 Menschen mehr, als neu geboren wurden. Der Bevölkerungsrückgang wird bisher nur zu einem Bruchteil durch Einwanderung wettgemacht. Manche chinesische Studenten, die japanische Unis absolvieren, dürfen bleiben, sie werden nach einiger Zeit eingebürgert. Die Zahl der Westler in Japan steigt ebenfalls, sie werden in Tokio zum Beispiel in der Finanzindustrie eingesetzt. Auch für Computerprogrammierer aus Indien und für Pflegepersonal gibt es kleinere Kontingente.
Vor zwanzig Jahren betrug Japans Ausländeranteil nur etwa ein halbes Prozent, inzwischen ist er auf 2,2 Prozent gestiegen. Doch das reicht nicht, um den Arbeitskräftemangel aufzufangen, unter dem Japan nicht nur bei den gefährlichen 3K-Jobs leidet. Es fehlen Dienstleister und Ingenieure. Dennoch hat Tokio eine geregelte Arbeitsimmigration bisher strikt abgelehnt. Doch eine Lösung des Bevölkerungsproblems wird immer dringlicher. «Bis 2050 brauchen wir zehn Millionen Einwanderer», meint Hidenori Sakanaka, früher einmal Chef des japanischen Immigrationsamts. Das wären jährlich 300'000 Zuzüger. «Es gibt keinen anderen Weg.» 2005 gründete Sakanaka sein Institut für Einwanderungspolitik, das untersucht, wie man Einwanderung erfolgreich organisiert. Wenn Japan Menschen ins Land hole und sich um Integration bemühe, vor allem mit Sprachunterricht, dann «sind das nicht nur Arbeitskräfte, sie werden auch Konsumenten». Als solche könnten sie helfen, Japans bald drei Jahrzehnte andauernde Wirtschaftsflaute zu überwinden.

Takaji Kunimatsu, einst Polizeichef von Tokio und vor seiner Pensionierung Botschafter Japans in der Schweiz, stimmt zu. «Wir müssen Karrierepfade für Immigranten schaffen. Wenn sie Verständnis für unsere Gesellschaft zeigen, sollten wir sie als permanente Mitbewohner akzeptieren.» Bisher ist das nicht so: Noch immer werden selbst jene Ausländer, die im Land geboren wurden und akzentfrei Japanisch sprechen, als Aussenseiter behandelt, oft diskriminiert – selbst ethnische Japaner, die im Ausland aufgewachsen sind.
Bis vor kurzem hatte auch Premier Shinzo Abe alle Rufe der Wirtschaft nach mehr Immigranten ignoriert. Vor zwei Jahren sagte er, Tokio werde wegen der schrumpfenden Bevölkerung in die Robotik investieren. Ausserdem sollten Frauen und Rentner zum Arbeiten bewegt werden: Die Japaner wollten keine Ausländer, so die Begründung. Inzwischen hat Abe erkannt, dass Frauen, Rentner und Roboter nicht genügen. Im Dezember hat er ein Einwanderungsgesetz durchs Parlament gepeitscht: Japan soll in den nächsten fünf Jahren aus acht ostasiatischen Ländern bis zu 345'000 Arbeiter rekrutieren. Das Gesetz unterscheidet zwischen Unausgebildeten, die fünf Jahre bleiben und keine Angehörigen mitbringen dürfen, und Spezialisten: Sie können mit Familie kommen und nach zehn Jahren den Daueraufenthalt beantragen.
Gegen Masseneinwanderung
Das Parlament protestierte; selbst junge Abgeordnete von Abes Partei stimmten nur widerwillig zu. Nach einer Umfrage wissen sie zwei Drittel der Japaner hinter sich. Abe versprach daher, das Programm werde gestoppt, falls die Kriminalität steige, und versicherte, die Regierung werde gegen ausbeuterische Vermittler oder Arbeitgeber vorgehen. Der Industriellenverband begrüsste Abes Kehrtwende, manche Landwirtschafts- und Fischereikooperativen ebenfalls: Sie sind auf Ausländer angewiesen. Ökonomen dagegen bemängeln, 345'000 Zuwanderer in fünf Jahren seien zu wenig. Der Anwalt Shoichi Ibusuki, der ausländische Praktikanten gegen japanische Arbeitgeber vertritt, befürchtet: «Das neue System für Unausgebildete wird die Fehler des Programms für ‹technische Praktikanten› wiederholen.»
Viele Japaner glauben, Nippon drohe Masseneinwanderung, wenn es die Grenzen öffne. Das Beispiel der Krankenpflegerinnen aus Südostasien, für die es bereits ein Programm gibt, scheint dies zu widerlegen. Von 986 Pflegerinnen, die im Vorjahr einen Antrag stellten, erhielten 472 ein Arbeitsvisum – es kamen 247. Tokio habe viel mehr erwartet, zitiert die «Japan Times» einen Regierungssprecher.
Das neue Gesetz sieht ein Kontingent von jährlich 5000 Pflegerinnen vor. «Aber Vietnam und die Philippinen befürchten, Japan schicke Leute zurück, weil sie zu wenig gut Japanischen können. Also kommen sie gar nicht», so der Regierungssprecher. Und von unausgebildeten Vietnamesen heisst es, sie ziehen es nun vor, nach Südkorea oder Taiwan zum Arbeiten zu gehen statt nach Japan.
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