Zwischen Raubbau und Racheakten
Epischer als jede Fernsehserie: Der Gangsterthriller «Birds of Passage» erzählt, wie sich die Indigenen von Kolumbien in einen brutalen Drogenkrieg verstricken.

Irgendwann, es sind bereits Jahre vergangen, erreichen wir die Mitte des Films. Es beginnt der Gesang vom Wohlstand, Rapayet lässt seiner Familie ein Haus mitten in die Lehmwüste bauen. Ein absurdes Bild, wie ein Tempel im Nichts. Rapayet ist weit gekommen. Sein Gesicht hat sich verhärtet, seit er damals als junger Waise beim Yonna-Tanz um die schöne Zaida warb und dann erfuhr, dass er deren Mutter Ursula eine teure Mitgift zahlen muss. Er kriegte sie zusammen, als er anfing, amerikanischen Hippie-Touristen das Marihuana kiloweise zu verkaufen, worauf er mit einer halben Viehherde ins Dorf zurückkehrte.
«Birds of Passage» spielt zwischen 1968 und 1980 unter den Wayuu in Kolumbien, einer ethnischen Gruppe, die auf der kargen Guajira-Halbinsel lebt. In ihrer Welt werden Mädchen in Isolation gehalten, bis aus ihnen Frauen werden. Taucht ein roter Vogel auf, steht ein Racheakt an. Ursula, die mächtige Älteste in der Region, liest die Träume; Tote nehmen die Gestalt des Yoluja an. Unter den Wayuu herrschen rigorose Regeln von Familienstolz und Respektsbezeugung, und wenn die Stämme miteinander kommunizieren, schicken sie Boten los.
Gewalt radiert Tradition aus
Wer da an den Consigliere aus «The Godfather» denken muss, liegt richtig: Es ist nicht das erste Mal, dass ein Film das mafiöse Potenzial von Clans freilegt. Aber so, wie «Birds of Passage» die indigenen Bräuche mit den Codes des Gangsterfilms überblendet, hat man das noch nie gesehen. Es sind ja beides rituelle Formen, die Tradition wie das Genre, nur erzählen die Regisseure Ciro Guerra und Cristina Gallego in ihrem Thriller davon, wie das eine das andere auffrisst: Gewalt radiert die orale Tradition der Wörter aus, Gier zerstört ehrenvolle Geschichte.
Die Wayuu waren wirklich im Marihuana-Handel tätig, die Periode des Cannabis-Exports der 70er wird als Bonanza Marimbera bezeichnet. Dass Kolumbien den Film bei den Oscars eingegeben hat, deutet vielleicht darauf hin, dass man Serien wie «Narcos» endlich mal ein einheimisches Korrektiv entgegenstellen wollte. Denn hier wird der Drogenkrieg lokal und kulturell verortet, Gewalt erscheint als spürbarer Schock. Ausserdem werden fast 20 Jahre in zwei Stunden verdichtet, was nicht nur Zeit spart, sondern eine eigene ökonomische Komplexität entwickelt.
Die knappen Szenen von Rapayets Aufstieg und seinem Streben nach Reichtum: Es sind erzählerische Konzentrate, jedes selber wie die Variation jener Übergangsriten, die bei den Wayuu eine so bedeutende Rolle spielen. Und übers Ganze weitet sich «Birds of Passage» zur epischen Erzählung, die Mythos und Profit verschränkt, sodass die Welt der Wayuu mit den Metaphern des Raubbaus bevölkert wird. Rapayet aber kann diese Zeichen nicht mehr lesen, seit er sich der Geisterbeschwörung des Geldes zugewandt hat. Bloss: Der mächtigste Aberglaube bleibt der, dass Frieden herrschen kann, wo Gewalt gegen und über Menschen ausgeübt wird.
Die Kraft eines Klagegesangs
Als Chronik der Akkumulation bekommt «Birds of Passage» die Kraft eines urtümlichen Klagegesangs. Es ist ein Gangsterfilm als fantastisch inszenierter Canto, in dem die fortschreitende Eskalation des Drogenkriegs unabwendbar auf das Verhängnis einer Familie zusteuert.
Regisseur Ciro Guerra hat bereits in seinem schwarzweissen Dschungeltrip «El abrazo de la serpiente» den europäischen Blick auf die Indigenen Lateinamerikas hypnotisiert, bis zum fiebrigen Delirium. Wenn er jetzt ethnische Kultur und zeitgemässes Genre verbindet, dann erscheint das Gangsterkino so, als sei es zu unserem Mythos geworden: als ewiges Lied von der Machttrunkenheit, der Brutalität des Verrats und des Aufstiegs als Akt trampelnder Zerstörung. Mit unvergesslicher Wucht weitet «Birds of Passage» die Geschichte von der Wayuu-Familie zum bösen Traum, den wir alle lesen können. Man muss nur auf die Zeichen achten.
Ab Donnerstag in den Kinos.
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